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Wie die naturwissenschaften erst seit der zeit zu reichster entwickelung gelangt sind, seitdem das experiment in die einzelnen disciplinen derselben eingeführt wurde, so wird die sprachwissenschaft erst dann zu wahrem gedeihen gelangen, wenn mehr und mehr das erfahrungsmässige in derselben zum bewusstsein gebracht sein wird. Apriorische theorien haben von jeher die wissenschaft nicht gefördert, sondern sie zuweilen ganze jahrhunderte gehemmt. Wenn unsere zeitschrift sich bisher vorzugsweise mit dem etymologischen theile der sprache beschäftigt hat und dessen behandlung auch fernerhin zu ihrer hauptaufgabe machen wird, so geschah dieses nicht in verachtung der philosophischen seite, welche die sprache als ausdruck des geistes hat, sondern weil wir die betrachtung derselben in den meisten stücken für verfrüht halten. Gleichwohl lag es uns fern dieselbe ganz auszuschliefsen, und es gereicht uns zu besonderer genugthuung als erste grössere probe die arbeit eines mannes mittheilen zu können, der, wie kaum ein anderer, mit der gründlichsten kenntnifs des etymologischen stoffes durchdringende philosophische auffassung desselben verband. Veranlafst ist der von frau direktor Schmidt in Halle uns freundlichst mitgetheilte brief durch das 1826 in Ratibor erschienene sehr gründlich gearbeitete programm «de infinitivo" von Max. Schmidt, worin dieser gegen einzelne ansichten von W. v. Humboldt über den infinitiv (in der ind. bibl. I. 432. II. 72 ff.) auftrat. Mit Bernhardi ist: Bernhardi anfangsgründe der sprachwissenschaft, Berlin 1805, gemeint.

Die redaction.

II. 4.

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I. Abhandlungen.

Ueber den infinitiv.

Ich bat ew. wohlgeboren in meinem letzte briefe um erlaubnifs, ihnen noch ausführlich über ihre gehaltvolle schrift schreiben zu dürfen, und schiebe dies um so weniger auf, als ich dieselbe eben wieder vollständig und genau durchgelesen habe.

Ich habe mich aufs neue an dem belehrenden reichthum scharfsinniger bemerkungen erfreut, den ew. wohlgeboren mit einer interessanten auswahl von stellen, welche eine ausgebreitete und sorgfältig benutzte belesenheit in den alten schriftstellern beweist, über den theil der grammatik und vorzüglich der syntaxis, in welche der infinitiv einschlägt, zusammengestellt haben.

Ihre abhandlung mufs schon dadurch jedem, der sich mit sprachstudium beschäftigt, um so wichtiger werden, als Sie überall auch aus anderen sprachen beweise beibringen, und ihre verschiedene constructionsart vergleichen. Ich übergehe indefs diesen ganzen theil und wende mich nur zu demjenigen, gegen den ich wünschte, Ihnen meine abweichende meinung vorzutragen. Die punkte, über die wir verschiedenen ansichten folgen, beruhen auf so feinen, ja, ich möchte sagen, spitzen gründen, dass man sehr leicht darüber immer uneins bleiben kann; aber sie berühren auch sehr nahe die ersten grundsätze der grammatik und schon darum, wenn es nicht überhaupt immer angenehm wäre, seine ideen da gegenseitig auszutauschen, wo allein das reine interesse an der zu suchenden wahrheit vorwaltet, scheint es mir wichtiger, den gegenstand noch einmal zur sprache zu bringen.

Ich werde dabei eigentlich mehr Bernhardi, als mich zu vertheidigen haben. Denn die zweifel, die ich ew. wohlgeboren vortragen möchte, betreffen, noch aufser der streitfrage über den infinitiv, Ihre theorie der momentanen merkmale und der satzbildung überhaupt, so wie das, was Sie über die tempora sagen. Allein auch in absicht des infinitivs ist Bernhardi, wenn er ihn gleich ein substantivum nennt, dennoch mehr meiner, als ew. wohlgeboren meinung. Denn er befafst (§ 64 no. 5) den infinitiv unter das verbum, wie Sie (§ 20) nicht zu thun geneigt sind,

und nennt ihn, ungeachtet er ihn zum verbalsubstantiv macht, (§ 47 no. 5) ein mittelglied zwischen participium und substantiv, was ich nicht logisch richtig finden kann. Denn wenn das verbalsubstantiv nur mittelglied, also annäherung zum substantiv ist, so mnfs es auch vom substantiv selbst ausgeschlossen werden.

Dem begriff des participiums den des momentanen merkmals unterzuschieben, scheint mir, wenn ich meine meinung frei sagen soll, nicht zulässig, vielmehr der philosophischen herleitung des begriffs des verbum und der ganzen bildung des satzes wesentlich entgegenzustehen.

Zuerst bestimmt der ausdruck momentan, dem dauernden entgegengesetzt, durchaus nicht das, was wesentlich im participium liegt, sondern begreift, streng genommen, auch blofse adjectiva unter sich. Denn ist nicht das grün der blätter ein undauerndes und momentanes merkmal, da sie im herbste gelb sind? Und doch ist hier aller begriff von verbum und participium entfernt. Doch will ich hierauf kein gewicht legen. Aber auf jeden fall vermisse ich in ausdruck und begriff die schärfe, die klar und rein das wesen des participiums anzeigt. Ew. wohlgeboren nennen momentanes merkmal dasjenige, was man sich nur als vorübergehend an einer sache denkt. Hierbei bleibt man nun ungewifs, ob das charakteristische dieser merkmale in der zeit ihrer dauer, oder darin liegt, dafs sie eine energie (handeln, leiden, sich befinden) sind. Es scheint sogar, als erklärten Sie sich für das erstere, da Sie (s. 6) die thätigkeit nur erst an die zeit anknüpfen.

Hieraus entsteht nun aber, meiner meinung nach, eine wahre verdunkelung des scharf aufzufassenden begriffs der participien. Denn das charakteristische dieser liegt gerade in der energie und die zeit knüpft sich nur an diese an. Ja, genau genommen, ist es nicht einmal die zeit, insofern sie aus gegenwart, vergangenheit und zukunft besteht, welche beim participium mitgedacht wird. Es sind nur die drei, bei jeder energie nothwendig zu unterscheidenden punkte, die aber freilich successiv, also in der zeit wirklich werden, wie Bernhardi mir sehr gut (§ 43 no. 8) zu beweisen scheint. Jene als vergangenheit, gegenwart und zukunft gedachte zeit gehört der copula an, und bei ew. wohlgeboren begriff eines momentanen merkmals entsteht nun wieder, wenn ich nicht ganz irre, daraus eine verlegenheit, dafs dieselbe gleichsam alle zeit an sich reifst, was vorzüglich bei der erörterung

der tempora sichtbar wird. Ueberhaupt hätte ich gewünscht, ew. wohlgeboren hätten sich auch über die copula erklärt. Soll diese nichts als das gleichheitszeichen der mathematik sein, so kommt, wie es mir scheint, niemals ein satz zu stande. Ist sie aber das synthesirende sein, so wird man, dünkt mich, von selbst darauf geführt, das momentane merkmal in ein wahres energisches participium umzuschaffen.

In Bernhardi's definition ist dagegen das participium in seinem eigentlichen wesen aufgefafst, und vielleicht ist nur sein ausdruck in § 40 no. 7 zu tadeln, wobei ich jedoch bemerken mufs, dafs derselbe in der citation in Ihrer abhandlung (s. 5. z. 8) durch den druckfehler eines ausgelassenen comma's zwischen kräftig und wirkend, unangemessener erscheint, als bei ihm, wo er sagt: sind kräftig, wirkend u. s. f. Er hätte bei den worten: energisch, sich bewegend stehen bleiben sollen, und hinzusetzen, dass das leiden ebenso eine bewegung im leidenden erheischt, der ja das leiden ertragen, d. h. gegenwirken muss. Im grunde ist das aber nicht nothwendig, denn das participium pass. deutet ja ebenso gut eine handlung aus, nur von seiten dessen, auf den sie geschieht. Auch die verba, wie ioάew, albere, bilden, dünkt mich, gar keine ausnahme; sie sind nur metaphern, wie die sprache so viele hat. Das adjectivum gleich wird, als wäre es eine handlung des gegenstandes, in das participium gleichend umgebildet, und so entstehen mit dem begriff des seins jene verba. Auch scheint Bernhardi selbst den zweifel, den er in der 1801 erschienenen sprachlehre hierüber hatte, 1805 aufgegeben zu haben, da er in den in diesem jahre herausgegebenen anfangsgründen bei seiner ersten definition bleibt.

Ich bin nun zwar gar nicht der meinung, dass man schlechterdings hier Bernhardi's behauptungen ängstlich folgen müsse. Wäre eine andere art der darstellung lichtvoller oder bestimmter, so würde ich sie mit freuden ergreifen. Allein in Ihrer herlei tung durch den begriff eines momentanen merkmals scheint mir das, was die hauptsache beim participium ist, dass gehandelt wird, in den schalten gestellt, und der begriff der zeit, der nur insofern in das participium kommen darf, als er von jener hauptsache gefordert wird, als das wesentliche und unabhängig von jener beschränkung, hineingebracht zu sein. Ich will auf keine weise läugnen, dafs man den begriff von allem dem, was nicht wesentlich zum participium gehört, reinigen kann; dann wird er

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aber auch auf dasselbe mit der Bernhardi'schen definition hinauskommen und momentan und vorübergehend sind, meinem gefühl nach, immer zu sehr zwischen blofser successiver abwechselung und wirklicher handlung schwankende begriffe.

Die sprache ist doch nichts als ein bild der wirklichkeit, wie wir sie in uns aufnehmen. Nun aber ist Alles, was wir sehen oder erfahren substanz (sache), oder beschaffenheit, oder handlung, im weitläuftigsten sinne des worts. Das handelnde ist sichtbar das participium und nachher verbum. Jede handlung ist nun allerdings momentan und vorübergehend, aber das möchte ich nur nebensache nennen. Die hauptsache ist, sowie im verbum, die kraftäufserung. Das vorübergehende läfst sich aus dieser natürlich herleiten und bestimmen, allein die kraftäufserung aus dem vorübergehenden nicht mit gleich gebietender nothwendigkeit.

Dies hat nun auch auf den begriff des infinitivs einen unverkennbaren einfluss, da derselbe eigentlich nichts anders enthält als die specifische kraftäufserung des verbum, verbunden mit der richtung derselben, und ihrer bestimmung auf einen zeitpunkt oder zeitraum.

Dafs der begriff des infinitiva in seiner reinen form, wie ew. wohlgeboren § 9 sagen, zu einem abgeschlossenen ganzen zusammengefasst werde, ist das was ich eben läugnen mufs. Er scheint mir kein substantivum eben darum, weil in ihm die verknüpfung zur einheit fehlt, die Bernhardi mit recht, wie auch Sie ihm beistimmen, im substantivum fordert. Wenn ich sage: ich sehe den menschen gehen, sondere ich allerdings das merkmal des gehens an dem menschen ab, allein ich füge nicht den zweiten zur bildung eines substantivum nothwendigen akt, das zusammenfassen dieses merkmals in eine einheit, hinzu. Dies thue ich dagegen wenn ich sage: ich sehe das gehen (den gang) des menschen. Jedes substantivum mufs immer auf eine substanz hinauskommen. Damit fängt auch Bernhardi seine erklärung des substantivs (§ 35 no. 1) an. Nun aber sträubt sich, wie gern ich meine ansicht gegen die von ew. wohlgeboren aufgeben möchte, durchaus mein gefühl dagegen, in den worten: ich will essen, das letzte als cine substanz anzusehen. Es enthält gar nichts, was nicht schon im attributivum lag, aber es ist ihm das, was das attributivum zu solchen macht, das anklebeu an einer substanz genommen. Ew. wohlgeboren nennen s. 9. diese vorstel

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