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Ein gewaltiger Umschwung der geistigen Stimmung bereitet sich vor: in umgekehrter Weise analog demjenigen, der ein Jahrtausend früher die christlichen Ideen auf die Höhe der Zeit emporgehoben hatte. Dieselbe heidnische Litteratur, die damals den Völkern der antiken Kultur schal und öde zu erscheinen begonnen hatte, übte nun eine wunderbare, unvergleichliche Anziehungskraft aus, und schien eine neue Welt zu erschließen; während die christlichen Ideen, die damals wie ein Strahl höheren Lebens in die Hohlheit und Armut des absterbenden antiken Geisteslebens hineingeleuchtet hatten, nun vor dem Glanze des wiedererstehenden Heidentums verblichen und alle Macht über die Gemüter zu verlieren anfingen.

Am Anfange der humanistischen Bewegung steht auch in der Ethik das antike Element noch gleichberechtigt neben dem christlichen. Es wirkt die Größe und Klarheit der antiken Gedanken; man fühlt auch, daß sie sich in vielen Punkten mit den ethischen Lehren des Christentums nahe berühren. Indem man auf sie zurückgreift, bietet sich die Aussicht, das Christentum selbst in einer edleren Gestalt erfassen und darstellen zu können, als die scholastische Philosophie, deren Geringschätzung man als eine treibende Kraft der ganzen Entwicklung des Humanismus betrachten muß. Dies zeigen mit großer Deutlichkeit Petrarcas lateinische Schriften, seine Dialoge besonders, welche seine Lebensphilosophie enthalten.36 Man sieht, wie in diesem Ahnherrn des italienischen Humanismus Seneca und Augustinus miteinander kämpfen und doch zusammengehen. Wie ihn der Gedanke der antiken Seelengröße begeistert und wie dieser stoische Gedanke bei ihm doch noch durch den Einfluß christlicher Vorstellungen, durch den Begriff der Gnade, modifiziert wird.

Mit Petrarca begann in Italien eine anwachsende Litteratur moral philosophischer Traktate im Sinne des Cicero und Seneca. Der große florentinische Staatskanzler Salutato († 1406) schrieb solche Abhandlungen, zitiert die römischen Stoiker wie kirchliche Autoritäten, und unter seiner Einwirkung bildete sich Lionardo Bruni. Sein kleines Handbuch der Moral verglich in Ciceros Sinn die epikureische mit der stoischen Lehre und erwies den Vorzug der Stoa.

In diesem Verhältnisse neigte sich das Uebergewicht je länger je mehr auf Seite des Antiken und die Stellung des entwickelten Humanismus zu der christlich-kirchlichen Weltanschauung wird nicht gerade zur offenen Feindseligkeit, aber zu einer inneren Entfremdung und vollkommenen Gleichgültigkeit. Das ganze Verhalten der gebildeten Kreise des damaligen Italiens, wo die humanistische Denkweise zuerst zu vollendeter Ausprägung gelangte, zahlreiche Gelegenheitsäußerungen von Persönlichkeiten, die als Repräsentanten der herrschenden Richtung gelten dürfen, legen den Schluß nahe, daß der Humanismus der Kirchenlehre mit völliger innerer Freiheit gegenüberstand.37

Bei Macchiavelli finden wir vielleicht die erste schonungslose Kritik der christlichen Religion von seiten ihrer ethischen Wirkungen her. Er vergleicht sie mit der antiken Ethik und sie erscheint seinem vor allem auf das politische Handeln gerichteten Denken durchaus ungünstig. „Unsere Religion hat mehr die demütigen und beschaulichen Menschen verklärt als die handelnden. Sie hat das höchste Gut in die Demut, die Niedrigkeit und die Verachtung des Irdischen gesetzt; die alte setzte es in Geistesgröße, Körperstärke und alles, was geeignet ist, die Menschen recht tapfer zu machen. Unsere Religion verlangt Stärke mehr zum Leiden, als um eine kühne Tat zu vollbringen. So ist die Welt zur Beute von Bösewichtern geworden, welche mit Sicherheit über sie schalten können, weil die Menschen, um ins Paradies zu kommen, mehr darauf bedacht sind, Mißhandlungen zu erdulden, als sie zu rächen.“ Und man wird sich nicht zu sehr verwundern, wenn dieser Fanatiker einer starken öffentlichen Gewalt, die er der tiefen politischen Zerrüttung seines Vaterlandes entgegenstellen möchte, und deren Nutzen er so hoch anschlägt, daß er dem, welcher dieses größte Kunststück zuwege bringt, volle unbedingte Freiheit in der Wahl der Mittel zugesteht, trotzdem für die Sittlichkeit alles vom Staate erwartet und damit den Theorien des 17. und 18. Jahrhunderts, den Ideen der Hobbes und Helvetius, präludiert. Keineswegs zufällig. Denn auch in England und Frankreich war es die Beobachtung weitgehender Zersetzung des Bestehenden, des politischen und sittlichen Zerfalls, was

jene Denker nach neuen Stützen in einer neuen Organisation sich umsehen ließ. Für Macchiavelli liegt der Ursprung, nicht der Güte des Herzens, aber der moralischen Regeln und Grundsätze, ausschließlich in der Erziehung durch den Staat, der des Eides, der Redlichkeit, der Gesetzestreue, ja selbst der Hingebung bedarf. Zwar finden sich Stellen, an denen er einen gewissen Wert der Religion für andere Völker und Stufen anerkennt, und einmal meint er sogar, die Begründung einer neuen Religion auf das Staatsinteresse sei nicht ausgeschlossen. Aber dann heißt es wieder kurz und schneidend: „Wir Italiener verdanken es der Kirche und den Priestern, daß wir schlecht und irreligiös geworden". 38

Nicht überall wird die gleiche Anschauung mit solchem Radikalismus vertreten. Man vergleiche mit Macchiavellis Aeußerungen einen der hervorragendsten philosophischen Denker Italiens am Ausgange des 15. Jahrhunderts, Pietro Pomponazzi, zwar Aristoteliker, aber die extremste Form des Aristotelismus im naturalistischen Sinne darstellend, zu welcher dieses System seinem Grundgedanken nach überhaupt zu gelangen vermochte.39 Indem er in der Schrift De Immortalitate animae" diese Idee bekämpft und die gegen eine solche Leugnung erhobenen Einwände zurückweist, hebt er die Autarkie des Sittlichen im aristotelischen Sinne auf das stärkste hervor, freilich mit dem ausdrücklichen Hinweis darauf, daß für die Mehrzahl der intellektuell Unmündigen die Religion mit ihren Vorschriften und Verheißungen an Stelle der Autonomie der Vernunft zu treten habe. Die Mischung von gemessenem Respekt und kühler Vornehmheit, mit welcher dieser Humanist über die Kirche spricht, ist unvergleichlich und beneidenswert.

Die dem Mailänder Cardanus zugeschriebene Einteilung der Menschen in Betrogene und Betrüger und solche, welche betrogene Betrüger sind, entspringt ganz dem gleichen Gedankengang.

Trotzdem ist von seiten des italienischen Humanismus kein Versuch gemacht worden, das kirchliche System direkt anzugreifen, obwohl es an Spott und Hohn gegen die Träger desselben, namentlich gegen das Mönchtum, nicht gefehlt hat. Die römische Kurie und der höhere Klerus sind zum Teil

direkte Verbündete der Humanisten. Es kann kaum bezweifelt werden, daß man in diesen Kreisen im Herzensgrunde die aufklärerischen Ideen des Humanismus vollkommen teilte; daß man mit seiner Hilfe namentlich der Bettelorden und so unbequeme Erscheinungen wie Savonarola loszuwerden hoffte, und im übrigen sehr gerne das Programm fortdauernder Herrschaft der kirchlichen Institutionen als eines unentbehrlichen Mittels zur Beherrschung und Ausbeutung akzeptierte. Aus diesem Grunde ist der italienische Humanismus, wie abgewandt er innerlich auch dem Christentum gegenüberstand, doch nirgends zu einem offenen Angriff auf dasselbe übergegangen. Man begnügt sich damit, ihm stillschweigend die Weltanschauung des Altertums gegenüberzustellen. Die Vermittlung, wo sie überhaupt gesucht wird, tritt als eine ganz äußerliche auf. Dies sieht man besonders deutlich aus Laurentius Vallas Dialog von der Lust, dem ersten Versuch der erst im 17. Jahrhundert von Gassendi in größerem Maßstabe unternommenen „Ehrenrettung des Epikureismus“. Valla führt seine durchaus auf dem Niveau eines ziemlich niedrigen Utilitarismus stehende Ethik herzhaft bis in die äußersten Konsequenzen durch, wie man sowohl an einzelnen theoretischen Erörterungen (namentlich des zweiten Buches), noch mehr aber den ziemlich breit ausgeführten praktischen Beispielen sieht. Höchst bezeichnend ist das dritte Buch, welches mit einer geschickten Wendung der vorgetragenen Theorie einen christlichen Abschluß zu geben weiß und mit Ausmalung der Genüsse des Jenseits endet. Diese Schlußreverenz Vallas vor Christentum und Kirche ist besonders auch deswegen interessant, weil sie sich genau so auch bei Gassendi findet. Vallas Dialog De libero arbitrio" erörtert die Schwierigkeiten, welche die Prädestinationslehre bietet, begnügt sich übrigens statt der Lösung einfach auf die christliche Demut zu verweisen. Man ahnt wohl in welchem Sinne: es ist der Ton Bayles, der hier zum ersten Male anklingt. 40

Allerdings fehlt es auch in Italien nicht an Versuchen, die neue klassische Bildung in den Dienst eines kirchlichen Reformgedankens zu stellen und zur Vertiefung des veräußerlichten religiösen Wesens zu benutzen. In demselben Florenz, in

welchem Savonarola seine leidenschaftlichen Angriffe gegen die Weltlust der Renaissance und gegen die Entartung des mit ihr verbündeten und von ihrem Geiste getränkten hohen Klerus, der römischen Kurie vor allem richtete, und das asketische Christentum der Bettelorden als eine allgemeine Lebensregel aufzurichten sich bemühte, entstand jene Akademie, in welcher der Platonismus, im Abendlande lange zurückgedrängt von dem unter kirchlichem Banner siegreich gewordenen Aristoteles, eine Pflegestätte fand. Hier wurden die alten Ideen von der wesenhaften Einheit der antiken Philosophie und des wahren Christentums wieder heimisch; hier wurde der Versuch gemacht, beide zu einer neuen, religiösästhetischen Weltanschauung, fern von aller Scholastik und ihren Künsteleien, zu verschmelzen; hier wurden die Dialoge Platos, die Schriften der Neuplatoniker und die Briefe des Apostels Paulus nebeneinander gelesen und von hier gehen durch John Colet bedeutsame Einwirkungen nach England und von da wiederum auf den niederländischen und deutschen Humanismus, auf Erasmus. Ernster als irgend ein anderer Zweig des italienischen Humanismus hat diese Schule das große ethischreligiöse Problem der Zeit ins Auge gefaßt; ja es scheint nicht ausgeschlossen, daß man hier sich mit ähnlichen Gedanken trug, wie ja auch Macchiavelli aussprach: Gründung einer neuen Religion, Ersatz der Theologie durch etwas Vollkommeneres, aus den besten Bestandteilen antiken und christlichen Geistes Gemischtes. 41

In Italien waren das nur vereinzelte Ansätze, an wenige, aus der Masse der humanistischen Gelehrten und Litteraten herausragende Persönlichkeiten und an die Gunst besonderer Verhältnisse gebunden. Dagegen weist der deutsche Humanismus von Anfang an eine merkliche Verschiedenheit auf. Schon die ersten Vertreter desselben haben die Anwendung der neuen Kenntnisse auf den Gesamtkreis der wissenschaftlichen und religiösen Studien mit Ernst erstrebt, was sich vollkommen begreift, wenn man den Ausgangspunkt des deutschen Humanismus ins Auge faßt, welcher in den Bestrebungen zur Reform des deutschen Kirchen- und Schulwesens seine eigentliche Wurzel hat. Allein trotz dieses innigen Zusammenhanges des deutschen Humanismus mit den reformatorischen Tendenzen Jodl, Geschichte der Ethik. I. 2. Aufl.

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