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wie viel hätte gerade ein Mann wie Luther mit seiner ungeheuren Fähigkeit volkstümlichen Ausdrucks, mit der schlichten Natürlichkeit seines Wesens, soweit es nicht durch seine mönchische Erziehung verbildet worden war, und mit dem tiefen Ernst seiner sittlichen Gesinnung wirken können, wenn er, statt sich an der Hand des dogmatischen Rabulisten Augustinus und der schwärmerischen deutschen Mystiker in die Geheimnisse der paulinischen Rechtfertigungs- und Gnadenlehre zu verlieren, das Werk des Erasmus in seiner Weise weitergeführt und die Evangelien in schlichter volkstümlicher Erklärung als den Grundstock von Sittlichkeit und Religion zu lebendigem Bewußtsein gebracht hätte; wenn um es mit einem Worte zu sagen Luther mehr von Zwingli und seiner freien humanistischen Bildung in sich gehabt hätte. 44 Doch das sind im Grunde müßige Spekulationen. Geschichte hat es nur mit dem zu tun, was wirklich geworden ist, wie bitter sich auch oft die Frage nach dem, was hätte werden können, vielleicht durch eine geringe Aenderung der Umstände oder Charaktere, auf unsere Lippen drängt. Sei dem wie ihm wolle: die nächste Wirkung des Streites der verschiedenen Formen christlichen Glaubens, welche sich nun an die Stelle der universalen mittelalterlichen Kirche setzten, war eine neue gewaltige Steigerung des theologischen Geistes und der religiösen Ergriffenheit der Gemüter. Die theologischen Kontroversen zwischen den einzelnen Konfessionen und den verschiedenen Parteien innerhalb der gleichen Konfession nehmen einen guten Teil der besten geistigen Kräfte in Anspruch; die dogmatischen Bestimmungen der Unterscheidungslehren erhalten die zugespitzteste Form und zugleich eine übergreifende Wichtigkeit, welche sich nicht bloß auf dem Katheder der theologischen Fakultäten, sondern auch auf der Kanzel breit macht, und der Moral nicht bloß jede selbständige Stellung nimmt, sondern sie beinahe aus dem Studien- und Gesichtskreise der Theologen verdrängt.

Es sind im wesentlichen die alten Probleme, das Verhältnis des natürlichen Sittengesetzes zur Offenbarung und das Verhältnis des menschlichen Willens zur Gnade, welche das Material für diese endlosen theologischen Streitigkeiten liefern

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müssen. Und wie mannigfaltige Kombinationen sich auch bezüglich der Lösung je nach Individualität und Parteistellung ergeben mögen prinzipiell neue Gedanken werden von theologischer Seite nicht mehr zu Tage gefördert. In der patristischen und scholastischen Lehrentwicklung von Paulus bis auf Luther, deren wichtigste Wendepunkte im vorstehenden herauszuheben versucht wurde, sind völlig genügende Anhaltspunkte zum Verständnis und zur Würdigung jener Theorien über den Ursprung des Sittlichen gegeben, welche auf dem Boden des historischen Christentums möglich waren. Die katholische wie die protestantische Lehre nach dem 16. Jahrhundert beschränken sich auf ein Umbilden der gegebenen Elemente und können deshalb vom Standpunkt des hier verhandelten Problems aus kein selbständiges Interesse beanspruchen. Dieses wendet sich vielmehr vom Beginn der neueren Zeit an überwiegend jenen Versuchen zu, welche es unternehmen, in freier philosophischer Erkenntnis, unabhängig von kirchlichen Lehrsystemen, eine Begriffsbestimmung des Sittlichen und eine Erklärung der betreffenden Erscheinungen durch rationales Studium der Welt und der menschlichen Seele zu gewinnen.

Drittes Buch

Die neuere Philosophie

VI. Kapitel

Die Anfänge einer selbständigen Ethik in der neueren Philosophie

1. Abschnitt

Allgemeine Voraussetzungen

Alle christlichen Konfessionen, wie mannigfach sie sich auch sonst voneinander unterscheiden mochten, hielten doch an dem einen Satze mit Zähigkeit fest, daß ohne den Glauben, d. h. ohne die Zugehörigkeit zu dieser bestimmten, allein die religiöse Wahrheit repräsentierenden kirchlichen Gemeinschaft, kein sittliches Verdienst für den Menschen und kein Heil zu hoffen sei. War auch natürlich die Formulierung sehr verschieden, nach welcher die einzelnen Konfessionen das Verhältnis der göttlichen Wirksamkeit der menschlichen Seele gegenüber bestimmten, mochten Protestanten und Reformierte mehr die Unbedingtheit des göttlichen Ratschlusses, Katholiken mehr den Mitanteil menschlicher Freiheit betonen: 1 das alles betrifft im Verhältnis zu der allgemeinen Grundanschauung, um welche es sich hier handelt, nur theologische Schulfragen und läßt die Hauptsache selbst vollkommen unberührt. Denn die Mitwirkung, welche die katholische Theorie dem Menschen beim Gnadenwerke ließ, gönnte ebenso wenig als das Decretum absolutum der Reformierten irgend welchen Spielraum für eine sittliche Entwicklung, die sich unabhängig von den übernatürlichen, magischen Hilfsmitteln vollzogen hätte. Der Grundgedanke, von dem man auf jeder Seite, bei allen Konfessionen ausging, war immer der: Was soll die Tatsache der Erlösung

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