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der Menschheit. Aber es ist nicht zu verkennen, daß hinter diesen scheinbar völlig entgegengesetzten Bestimmungen ein und derselbe ethische Grundbegriff steht: der Begriff der auf vernünftiger Einsicht ruhenden Selbstbeherrschung. Der Kyniker hält sich mittels ihrer die äußeren Dinge überhaupt vom Halse und macht seine Begierden von ihnen frei. Der Kyrenaiker behält sich auch als Genießender in der Hand; er prüft und wählt mit Verstand; er weiß auch beim Besten zur rechten Zeit aufzuhören und auch dem Schlimmsten noch etwas Gutes abzugewinnen. Aber auch der Kyniker kämpft den Kampf gegen die natürlichen Triebe und Begehrungen nicht um des Kampfes willen, sondern wegen der Freiheit und inneren Freudigkeit seines Gemütes, die ihm nur in der Unabhängigkeit von äußeren Dingen und im Gefühl der eigenen Kraft wurzeln zu können scheint; und der dem Antisthenes zugeschriebene Satz, die Lust sei ein Gut, aber nur jene, der keine Reue folgt, würde mit geringen Modifikationen auch von den Kyrenaikern angenommen werden können. Denn wenn diesen auch jede Lust an sich für etwas Gutes und insofern Erstrebenswertes galt, unabhängig von ihrem Ursprung, auch wenn sie aus Bösem hervorgegangen war, so konnten doch auch sie sich der Tatsache nicht verschließen, wie viel Unlust auf dem Wege zu mancher Lust liege und manch anderer folge, und daß darum der denkende Mensch nicht die Lust des Augenblicks, sondern die Lust der Wahl zu seinem Richtpunkt nehmen werde.

Es sind Spiegelungen echt sokratischen Wesens in verschieden gearteten Persönlichkeiten, die alsbald Schul- und Lebenstypen werden; Züge, die in Sokrates gleichberechtigt nebeneinander standen, ungleich ausgebildet. Von der heiteren Genußfreudigkeit des Sokrates ist die Ueberlieferung so voll wie von seiner Kraft des Ertragens und Entbehrens und der gleichmäßigen Ruhe seines Gemütes. Die ganz trümmerhafte Ueberlieferung - eine Anzahl von Anekdoten und Aphorismen reicht eben nur hin, um uns die Umrisse der Ideale persönlicher Lebensgestaltung erkennen zu lassen, die hier ausgebildet wurden. Der Einblick in den wissenschaftlichen Gang der Argumentation, in die psychologischen Theorien,

welche den Leitsätzen der Schulen zu Grunde lagen, ist uns ganz und gar verschlossen. Nur die freilich auch unzusammenhängende aber viel reichlichere Ueberlieferung der Gedanken, welche in der epikureischen und stoischen Schule entwickelt worden sind, gestattet uns diese Lücke wenigstens zum Teil zu ergänzen. Denn offenbar haben wir in diesen philosophischen Richtungen der späteren Zeit Um- und Weiterbildungen des Gegensatzes, welcher in der Periode nach Sokrates die kynische und die kyrenäische Schule trennte.

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Dies gilt ganz besonders auch von der Stellung, welche Kyrenaiker und Kyniker zum Götterglauben und zur religiösen Ethik einnehmen. Es scheint nicht bezweifelt werden zu können, daß die ersteren ebenso den Aufklärungstendenzen der epikureischen Schule präludieren, wie die letzteren dem theologischen Rationalismus der Stoiker. Aus der Schule Aristipps ist jener Theodoros hervorgegangen, welcher zu der verhältnismäßig geringen Anzahl von Denkern gehört, von denen berichtet wird, daß sie die Existenz eines Göttlichen in jedem Sinne geleugnet haben; und bei der Mehrzahl der Kyrenaiker scheint wenigstens in der Weise des späteren Epikureismus der Begriff einer Vorsehung und eines persönlichen Waltens der Gottheit beseitigt worden zu sein. Die Kyniker sind keine Atheisten gewesen, sondern abstrakte Monotheisten. „Der Satzung nach gebe es viele, der Natur nach nur einen Gott," stand bei Antisthenes zu lesen. Die polytheistische Religion ernst zu nehmen konnte auch ihnen nicht einfallen. Aber die älteren Kyniker, Antisthenes selbst und Diogenes, liebten es, sich in die Mythen zu vertiefen und ihnen durch geistreiche Umdeutung einen bedeutenden Sinn zu entlocken. Später machte freilich diese allegorisierende Auffassung einer rein satirischen und polemischen Behandlung der Religion und der Priesterschaft Platz.2

Unentschieden muß wohl die Frage bleiben, auf welche Weise diese ethischen Lehren, die, wie es nach der Ueberlieferung zunächst scheint, ihr Absehen nur auf persönliche Werte, und zwar auf zuständliche Werte gerichtet hatten, ein geeignetes soziales Verhalten des Individuums begründet haben, oder welche Anforderungen von ihnen nach dieser Richtung

gestellt wurden. Die Kyrenaiker dürften bedächtige Anpassung an Gesetz und Rechtsgewohnheit empfohlen und in dem geltenden Recht wenigstens ein Stück allgemeiner praktischer Vernunft anerkannt haben. Aus ihrem Kreise ist der Satz überliefert: „Der Philosoph würde, wenn auch alle Gesetze zu gelten aufhörten, genau so weiterleben, wie unter den Gesetzen." Das kann doch nur besagen, daß die denkende Selbstbeherrschung des Menschen zu ähnlichen Wertschätzungen und Normen führen werde, wie sie in Recht und Sitte als äußere Vorschriften bestehen. Einen ganz ähnlichen Standpunkt hat aber schon Sokrates eingenommen, bei welchem die Autorität des denkenden Subjektes und die Autorität der im Staate erscheinenden Rechtsvernunft nebeneinander stehen. 3 Von den sozialreformatorischen Tendenzen allerdings, welche die heutige Forschung immer entschiedener bei Sokrates anerkennt und in denen wir gewiß den tiefsten Grund des gegen ihn geführten Prozesses erblicken müssen, ist hier keine Spur vorhanden. Der Einsichtige hält sich von den öffentlichen Dingen fern: er kann aus ihnen für sein Glück nichts gewinnen, wenngleich der Wert von Freundschaft, Familie und Gesellschaft von einigen Vertretern der Schule nicht geleugnet wird.

Noch weiter sind in der gleichen Richtung die Kyniker gegangen. Sie haben aus ihrem Prinzip der Bedürfnislosigkeit eine abstrakte Naturethik entwickelt, welche alle konventionellen Wertbegriffe, nicht nur die Regeln des Anstands und der Pietät, sondern auch grundlegende soziale Institutionen, die Ehe, den Staat, mit Geringschätzung behandelt und den Naturzustand, die Zeit vor der Kultur, als das Paradies der Menschheit gepriesen hat. Zahlreiche Anekdoten, die aus dem Altertum berichtet werden, gehen auf diese mit einer gewissen prahlenden Ostentation zur Schau getragene Gegnerschaft gegen das Kulturleben zurück.

Diese Stimmung ist hier zunächst vereinzelt: sie hat ihren mächtigen Widerpart in den großen staatsphilosophischen Idealgebilden, in welche ein Plato, ein Aristoteles ihre Ethik einmünden lassen -die höchsten Hoffnungen für die Vollendung menschlichen Wesens auf eine vollkommene und vernunft

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gemäß geordnete Organisation der Gemeinschaft setzend. Aber der Kynismus hat, lange nachdem seine Theorie abgeschlossen war, als Sekte noch fortexistiert je nach der persönlichen Haltung seiner Vertreter den Zeitgenossen bald Bewunderung, bald ein unwilliges Lächeln abgewinnend. Es ist zu vermuten, daß vieles von seiner praktischen Lebensstimmung in die Ethik des älteren Stoizismus überging, dessen Begründer, Zenon, von Hause aus Kyniker gewesen war. Und obwohl wir diese Richtung mit unseren unzulänglichen Hilfsmitteln, namentlich auf dem Gebiete der praktischen Philosophie, nur schwer von den späteren Kynikern zu trennen vermögen, so scheint doch nicht bezweifelt werden zu können, daß sich diese bis tief ins Kaiserreich hinein als eine selbständige Gruppe neben der Stoa erhielten etwa wie in den Bettelorden des späteren Mittelalters eine Richtung strengerer und eine Richtung laxerer Observanz auf dem Grunde einer im Wesen identischen Weltanschauung einander gegenüberstehen. Sicherlich hat auch der Kynismus jene Lebensstimmung der Resignation verbreiten helfen, welche der großen religiösen Umbildung der antiken Welt voranging. Auch in seinem Verhalten gegen die Kultur und ihre Güter, in seiner Verachtung der schönen Form und der Lebensfreude, kündigt sich jene Flucht aus der Welt in die Einsamkeit, aus der Stadt in die Wüste, aus dem Genuß zu Entbehrung und Selbstpeinigung an, welche im 2. und 3. Jahrhundert der christlichen Aera zu einer allgemeinen Erscheinung wurde. Die Mönche des 3. und 4. Jahrhunderts sind die Kyniker der vorchristlichen Zeit: in ihnen kehrt die Verachtung der Menschen und der Dinge in der Welt wieder; die Verwerfung von Ehe, Familie und Eigentum, der Verzicht auf die Kulturgüter, das bettelhafte Dasein und die vollkommene Staats- und Vaterlandslosigkeit. Die Dogmen wechseln; aber verwandte Zeiten und ähnliche Völkerschicksale bedeuten auch gleiche Lebensstimmungen und gleiche Versuche, den innersten Kern der Persönlichkeit aus dem Schiffbruch des Lebens zu retten.5

2. Abschnitt

Epikur und seine Schule

1. Schicksale des Epikureismus

Die Richtung des sokratischen Denkens, welche sich in der kyrenaischen Schule fortgesetzt hatte, gelangte zu Ende des 4. Jahrhunderts vor Christus im System Epikurs zu einer neuen, sorgfältig durchgebildeten Lehrform und in dieser zu einer das ganze spätere Altertum beherrschenden Wirksamkeit. Denn es unterliegt keinem Zweifel, daß sich der spätere griechische und auch der römische Epikureismus von den Gedanken des Begründers der Schule nur in unwesentlichen Dingen entfernte und daß es Epikureer im Altertum so lange gegeben hat, als sich der selbständige philosophische Gedanke der christlichen Hochflut gegenüber noch behauptete und jemand diese Weltanschauung zu bekennen überhaupt noch wagen durfte. Der Epikureismus nach allen uns vorliegenden Zeugnissen weit verbreitet und überall heimisch, auch auf gegnerische Meinungen nicht ohne Einfluß - ist einer der großen herrschenden Lebenstypen der späteren antiken Welt gewesen: der einzige, der in sich gar keine Möglichkeit der Vermittlung oder Verschmelzung mit den Idealen des Christentums trug; der diesem völlig abgewandt blieb und der kirchlichen Anschauung als der eigentliche Repräsentant des Heidentums, der Weltlust, der Pflege der Sinnlichkeit, des Mangels höherer Lebensziele, der Gottlosigkeit und der Leugnung des Jenseits, erschienen ist. Eine Geringschätzung, zu welcher die hohe Verehrung, welche Epikur im Altertum genoß, und zwar nicht nur bei seinen Schülern und Anhängern, sondern auch im Kreise der mit ihm um die Beherrschung der Geister konkurrierenden Stoa, einen seltsamen Gegensatz bildet.9 Platos Gedanken sind an der Wiege der christlichen Theologie und Dogmatik gestanden und haben die Lehre der großen Kirchenschriftsteller im Morgen- und Abendlande bis auf das Zeitalter des Augustinus beherrscht; die Stoa war in ihrer

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