Page images
PDF
EPUB

"

Naturphilosophie und Erkenntnislehre nur einzelne gelegentliche Hindeutungen auf das ethische Gebiet. Mit dessen Problemen scheint sich Cudworth zwar unausgesetzt beschäftigt zu haben, ohne indessen so schnell zu einem Abschlusse oder zur Veröffentlichung gelangen zu können, als er selbst und seine Gesinnungsgenossen wünschten, denen es um eine Antidosis gegen Hobbes zu tun war. So kam es, daß Henry More mit der Veröffentlichung seines Enchiridion Ethicum" im Jahre 1667 die Arbeiten Cudworths antezipierte 42 - ein Werk, welches zwar in manchen wesentlichen Punkten von den Anschauungen abweicht, welche Cudworth später ausgesprochen hat, aber mit diesem die polemische Tendenz gegen Hobbes teilt. 43 Diese tritt allerdings bei Cudworth viel stärker hervor; aber in die eigentliche litterarische Diskussion, welche sich an Hobbes' Doktrin anknüpfte, hat dieser Denker, wenigstens auf ethischem Gebiete, nicht mehr eingegriffen. Denn über der Vollendung seiner ethischen Abhandlungen ist Cudworth gestorben und erst ein halbes Jahrhundert später kam eine derselben aus seinen hinterlassenen Papieren an die Oeffentlichkeit. Es ist dies der 1731 von Chandler, Bischof von Durham, herausgegebene,Treatise concerning eternal and immutable Morality".

Lockes Philosophie stand damals schon in hohem Ansehen und übte jene volle Herrschaft aus, die erst später wieder bestritten zu werden begann. So kam das Buch Cudworths um eine Generation zu spät, obwohl das Systema Intellectuale noch im Jahre 1743 in einer zweiten Ausgabe in englischer Sprache erschienen ist. Vieles von dem, was Cudworth gegen Hobbes zu erweisen gesucht hatte, konnte mit ebensoviel Recht auch gegen Locke geltend gemacht werden; aber die schriftstellerische Form, in welcher Cudworths Argumente auftraten, vermochte mit ihrer pedantischen Schwerfälligkeit eine fortgeschrittenere Zeit nicht mehr zu befriedigen, welche bereits angefangen hatte, sich daran zu gewöhnen, auch philosophische Ideen nicht in unverständlicher Schulsprache, sondern in künstlerisch abgerundeter Darstellung vorgetragen zu sehen.45 Und es ist eine eigentümliche Ironie des Schicksals, daß die Tochter Cudworths, Lady Masham, aus deren Besitz das Manuskript Cudworths in die Hände des Herausgebers gelangte, die eifrigste

Freundin und Gönnerin Lockes gewesen ist, welcher in ihrem Landhause zu Oates verkehrte und dort starb.46

Diese Gründe machen es begreiflich, warum der aus dem Nachlasse Cudworths herausgegebene Traktat eine weitergehende Wirkung nicht auszuüben vermocht hat. Wenn man Cudworth mit Recht als den Gründer der intellektualistischen Schule in England bezeichnen darf, 47 so fällt dieser Ruhm, auch wo es sich um spätere ethische Forschung handelt, großenteils auf sein Hauptwerk, das „Intellectual System", welches eine Rüstkammer des freilich stark in den Hintergrund gedrängten Rationalismus blieb. Denn jene Denker, welche vom intellektualistischen Standpunkte aus die ethische Doktrin Lockes bekämpften, Clarke und Wollaston, können den „Treatise concerning immutable Morality" noch nicht vor sich gehabt haben und erst bei Price finden wir beide Werke genannt und benutzt. 48

2. Cudworth

Die Polemik, welche Cudworth gegen Hobbes führt, beruht zum Teil auf einer mißverständlichen Auffassung seiner Theorie, in welcher er nur einen extremen Nominalismus erblickt.49 Ueber die Einzelheiten derselben kann hier umso kürzer hinweggegangen werden, als die Hauptgedanken später in der Polemik Clarkes gegen Locke zur Darstellung zu kommen haben. Beide Denker sind durch ihre metaphysischen Anschauungen scharf getrennt; aber die gemeinsame Verwendung der Begriffe der „recta ratio“ und „lex naturalis“, der Parallele zwischen sittlichen und mathematischen Wahrheiten zeigt, wie sehr beide von einem gleichartigen Vorstellungskreise abhängig sind. 50

Wie dem aber auch sein mag: jedenfalls glaubte Cudworth selbst die Grundlagen und den echten Begriff der Sittlichkeit durch die Hobbessche Doktrin bedroht. Er suchte darum ihrer Ableitung des Sittlichen aus den praktischen Bedürfnissen der Menschen, aus sozialer Vereinbarung und bürgerlicher Satzung, eine andere Lehre gegenüberzustellen, welche die unbedingte Priorität des Sittlichen vor aller Satzung, seine Unberührtheit von allem Wechsel sichert, es über jeden Ver

dacht erhebt, bloß eine zufällige menschliche Institution zu sein, und es für ein notwendiges Stück des metaphysischen Grundbestandes der Welt erklärt. Die natürlichen" Prinzipien der Sittlichkeit, von welchen ja auch Hobbes gesprochen hatte, waren in Cudworths Sinne wertlos. Aus einer solchen Natur, wie sie Hobbes gedacht hatte, scheint ihm das eigentliche Wesen des Sittlichen, seine unbedingte Hoheit, seine verpflichtende Kraft, nicht abgeleitet werden zu können. Diese können ihren Ursprung nur in etwas haben, was über der Natur steht, d. h. im göttlichen Geiste, als Intelligenz, nicht als Wille gedacht, der ewigen Ordnung und Vernunft, welche alle Dinge leitet.

Denn wie sollte der menschliche Geist mit seiner unvollkommenen Einsicht in die Gründe der Dinge, in seinem schwerfälligen Schließen von einem aufs andere, die Quelle ewiger und für sich bestehender Wahrheiten sein können? Die Annahme eines ewigen Geistes, welcher die Natur der Dinge und die ewigen Wahrheiten real in sich begreift, vermag hier allein zu erklären. 51

Die Frage, wie entsteht das Sittliche und woher stammt es, verliert auf diesem Standpunkt entweder alle Bedeutung, oder erhält doch einen ganz eigentümlichen Sinn. Sie ist zunächst dahin zu beantworten: Es entsteht überhaupt nicht; es ist; es stammt aus der gegebenen und unabänderlichen Natur der Dinge, der gegenüber selbst Gottes Wille machtlos ist. Die Existenz und Ableitung der sittlichen Ideen wird vollkommen parallelisiert mit den mathematischen Wahrheiten. 52 Einen derartigen Vergleich hatte allerdings schon Hobbes gemacht, indem er auf die verwandte Art des Schließens verwies, wodurch mathematische und ethische Wahrheiten gefunden werden; aber die metaphysische Anwendung dieses Vergleiches ist ihm fremd. Auf sie legt aber Cudworth gerade das Hauptgewicht. Wie die mathematischen Wahrheiten bleiben, was sie sind, gleich viel ob sich unser Geist mit ihnen beschäftigt, oder nicht; wie jene nicht von den Denkern, die sie auffanden, geschaffen worden sind, sondern an und für sich existierten, wenn auch alle Kenntnis der Geometrie verloren ginge: so verhält es sich auch mit den Grundsätzen der

Sittlichkeit. 53 Auch sie stellen nicht etwas Veränderliches, Wechselndes, vom Geiste beliebig Hervorgebrachtes vor, sondern sind der notwendige Ausdruck einer unveränderlichen Wesenheit, die gegeben war, bevor die Welt und die einzelnen Geister geschaffen wurden und die auch bestehen würde, wenn diese ganze körperliche und geistige Welt zu Grunde ginge.

Dieser Gegensatz zwischen Hobbes und Cudworth ist von der höchsten prinzipiellen Bedeutung. Er zeigt uns eine Differenz, welche die Metaphysik aller Zeiten gespalten hat und spalten wird, gleichviel ob man von Betrachtung der Phänomene der Natur oder des sittlichen Lebens ausgeht. Sind die Bruchteile von Vernunft, welche uns die Erfahrung in Natur und Leben erkennen läßt, nur Reflexe und Ausstrahlungen einer den innersten Grund alles Seins bildenden höchsten Vernunft, oder sind sie Spuren des Vernünftig werdens dessen, was an sich nicht vernünftig, sondern nur notwendig ist?

Dieser Gegensatz war schon unter den antiken Schulen hervorgetreten, und wenn er jahrhundertelang durch die christliche Theologie und Scholastik völlig zu Gunsten des Rationalismus entschieden schien, so macht er sich nun an der Schwelle der neueren Philosophie mit Macht aufs neue geltend, um in den verschiedensten Wendungen und Gestaltungen bis in die neueste Spekulation hereinzuragen. In der Vermittlung zwischen jenen antiken Kontroversen und der beginnenden Diskussion der neueren Philosophie nimmt Cudworth eine wichtige Stellung ein. Die schöpferische Originalität seines Gegners verkennt er vielleicht allzusehr; allein der Parallelismus zwischen Hobbes und den Naturalisten des Altertums bleibt doch bestehen, und die Argumente Cudworths leiten eine neue Phase des Platonismus ein.

Es bleibt nun noch die Frage übrig, woher stammen diese Regeln im einzelnen Geiste und wie gelangt der Mensch zum Bewußtsein derselben? Die Antwort auf diese Frage ergibt sich aus der gesamten Erkenntnistheorie Cudworths. 54 Wenn alles Wissen und alle Erkenntnis nur gedacht werden kann als Modus eines unendlichen Geistes und seiner ewigen Weisheit, so müssen alle geschaffenen Geister es aus diesem Urquell der Wahrheit überkommen haben. Es gibt also eine

Art Erbgut der Seele, die durchaus nicht bloß tabula rasa ist und bloß das passive Vermögen besitzt, Eindrücke zu erleiden, so daß sie nichts aus angeborener und eigener Kraft hervorzubringen vermöchte.

Im schärfsten Gegensatze gegen alle sensualistische Auffassung und der späteren Entwicklung dieser Doktrin im voraus eine Fülle von Argumenten entgegensetzend, bemüht er sich nachzuweisen, daß das Erkennen nur durch eine selbständige Aktivität zu stande kommen könne, die in der bloßen sinnlichen Wahrnehmung nicht liege; daß man es folglich nur einer inneren Antezipation des Geistes zuschreiben dürfe, die demselben von Natur eigen sei und durch die äußeren Eindrücke nur Gelegenheit erhalte, ihre eingeborene Kraft in denkender Betrachtung derselben zu äußern. 55 Man hat Cudworth um dessenwillen einen Vorläufer Kants genannt 56 und ich will nicht leugnen, daß sich bei ihm Sätze finden, welche auch bei Kant stehen könnten; aber wie unentwickelt das ganze Studium der Frage damals noch war, wie unbehilflich roh der Sensualismus, gegen welchen Cudworth kämpfte, und wie mangelhaft die Hilfsmittel psychologischer Analyse, über welche seine eigene Ansicht zu verfügen hatte, das sieht man recht deutlich an den Stellen, 57 wo er das aus rein sensualistischen Annahmen nicht Erklärbare, und darum nur aus der eigenen und angeborenen Kraft des Geistes Abzuleitende, näher bezeichnet.

In dieser wie in anderer Beziehung hat Cudworth seinen Nachfolgern viel zu tun übrig gelassen. Die Forderung eines apriorischen Elements im Geiste tritt bei ihm noch mit einer gewissen Naivetät auf, welche der einschneidenden und zersetzenden Schärfe der Untersuchungen Lockes und seiner Schule als notwendige Ergänzung bedurfte; und sein Begriff des Sittlichen selbst ist bei aller Hoheit und Würde, die Cudworth ihm zu geben bemüht war, doch völlig einseitig geblieben. Ueber dem Streben, der Sittlichkeit eine unverrückbare und in gewissem Sinne übernatürliche Grundlage zu schaffen, hat er den realen, psychologischen Charakter desselben völlig außer acht gelassen. Eine Sittlichkeit in Cudworths. Sinn wäre möglich bei reinen Vernunftwesen; wie sie aber

« PreviousContinue »