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Auch an der Spitze der aristotelischen Ethik 27 steht der Begriff der Glückseligkeit (Eudaimonia). Mit der prinzipiellen Feststellung, daß jede Technik und jede Untersuchung, ebenso jede Handlung und jeder Entschluß, ein Gut erstrebe, beginnt die nikomachische Ethik, um von der Betrachtung der Relativität der einzelnen Güter, welche angestrebt werden, alsbald auf die notwendige Annahme eines allgemeinsten, obersten Gutes überzugehen, welches nur um seiner selbst willen angestrebt wird. Und als das einzige Gut, welches niemals um eines anderen willen gewählt wird, erscheint Aristoteles die Glückseligkeit: bei allem Streben nach Teilgütern bildet sie den notwendigen Hintergrund, während niemand nach der Glückseligkeit um anderer Güter willen verlangt. (Eth. Nikom. I. B., 5. Kap.) Sie ist das höchste Gut auch in dem Sinne, daß sie nicht durch Zusammenzählen von einzelnen Gütern entsteht, sondern sich vielmehr als etwas Vollendetes und sich selbst Genügendes darstellt. 28 (I. B., 12. Kap.) Mit diesem Fundamentalbegriff der aristotelischen Ethik muß man nun sogleich die überaus eingehende und sorgfältige Erörterung zusammenhalten, welche er im weiteren Verlaufe dem Begriffe der Lust gewidmet hat, 29 weil die Glückseligkeit nach allgemeiner Ansicht mit Lust verknüpft ist. Aristoteles stand hier bereits einem großen Kontroversenreichtum gegenüber, auf den er deutlich genug anspielt und aus dem

Jodl, Geschichte der Ethik. I. 2. Aufl.

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er das Haltbare herauszuschälen unternimmt. Manche, sagt er, halten keine Lust für ein Gutes, weder an sich noch beziehungsweise, weil das Gute und die Lust nach ihnen nicht identisch sind. Manche halten einige Arten der Lust für ein Gutes, aber viele andere für schlecht; und eine dritte Ansicht rechnet zwar alle Arten der Lust zum Guten, aber die Lust kann nach ihr nicht als das höchste Gute gelten. Aristoteles entscheidet sich in diesen Kontroversen für die mittlere Ansicht. Er war ein zu feiner Beobachter von Welt und Menschen, um nicht mißtrauisch zu sein gegen jede Ansicht, welche die Lust für etwas durchaus Verwerfliches, dem Guten Entgegengesetztes hält. Er erinnert an die Urtatsache des Schmerzes, von dem niemand leugne, daß er ein Uebel, eine Hemmung, und darum zu fliehen sei. Das Gegenteil des Schmerzes aber sei die Lust und sie müsse darum logischerweise als Gut gelten. Wäre es doch schwer zu sagen, welches Uebel die Lust sein sollte. Tief ist bei Aristoteles die Ueberzeugung festgewurzelt, daß in der Lust eine Urkraft des praktischen Verhaltens gegeben sei. Er sieht in ihr etwas, das allen lebenden Wesen gemeinsam ist, und zu allem, wozu man sich entschließt, mit hinzutritt; ein Gefühl, das von frühester Kindheit mit uns großgezogen wird, das mit unserem ganzen Leben verwächst und darum schwer zu vertreiben ist (II, 2). Wenn schon nicht alle die gleiche Lust erstreben, so gehen doch alle der Lust nach; vielleicht nicht einmal der, welche sie meinen oder von der sie sprechen, sondern alle derselben; ja vielleicht ist noch in den schlechtesten Menschen ein natürlicher Trieb (ein Göttliches sagt Aristoteles geradezu an einer anderen Stelle) vorhanden, welcher, stärker als sie selbst, das ihm eigentümliche Gute begehrt (X, 2; VII, 14).

Gewiß zeigt sich die feine Menschenkenntnis des Aristoteles darin, daß er in anderem Zusammenhang, nämlich wo er von der Erziehung zur Sittlichkeit, d. h. zur Gewöhnung an die richtige Mitte, spricht, vor der Lust warnt, weil sie die Befriedigung unserer natürlichen Neigungen begleitet und uns hindert, als unbestechliche Richter zu urteilen: „wenn wir sie fortweisen, werden wir weniger leicht fehlen“ (II, 9).

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Aber dies ist keine Absage an die Lust überhaupt. Er warnt ja auch mit einer angesichts der späteren Entwicklung der asketischen Ethik erstaunlichen Voraussicht vor den falschen Propheten, welche aus pädagogischen Gründen die Lust verdächtigen zu müssen meinen, um Gegengewichte gegen das natürliche Streben nach Lust zu schaffen. Solche Behauptungen der allgemeinen Menschenerfahrung durchaus zuwiderlaufend machen die Menschen nur stutzig und, wenn sie dann einen solchen Lustfeind doch ihrem Zauber unterliegen sehen, so tut der Rigorismus seiner Lehre der Wahrheit sogar Schaden. Nur wo die Begriffe mit den Taten stimmen, vertraut man ihnen und veranlassen sie die Hörer nach denselben zu leben" (X, 1). Der Standpunkt, den Aristoteles durch diese Untersuchungen gewinnt, läßt sich so ausdrücken: Glückseligkeit ohne Lust ist ein leeres Wort. Auch das höchste Gut kann ohne Lust nicht gedacht werden; denn sonst wäre es möglich, daß man glückselig sein und doch nicht angenehm leben könnte. Aber ebenso gewiß ist es, daß die Lust als solche nicht das höchste Gut ist und nicht jede Lust begehrenswert. Eine gewisse Lust wird das höchste Gut sein, wenn auch viele Arten der Lust möglicherweise tadelnswert sein sollten (X, 2; VII, 14). Und auch wer sich selbst beherrscht, der flieht nur gewisse Arten der Lust, nicht die Lust überhaupt, da es ja noch vielerlei andere Lust für ihn gibt als diejenige, deren er sich enthält (VII, 13).

Mit diesem prinzipiellen Zusammenhang zwischen den Begriffen Glückseligkeit und Lust setzt Aristoteles zugleich die engste Verbindung zwischen den Begriffen Lust und Sittlichkeit. Die Tugend, so erklärt er zunächst ganz allgemein, besteht in dem besten Handeln in Bezug auf Lust und Schmerz, und bei dem Laster findet das umgekehrte statt. Sittlichkeit also beruht darauf, daß die richtige Lust oder vielmehr Lust aus der richtigen Quelle erstrebt wird und den Leitstern unseres praktischen Verhaltens bildet. Welche Lust aber ist die richtige?

Auf diese Frage hat Aristoteles eine Antwort gegeben, die seinen Eudämonismus um ein gutes Stück über die Auffassung der übrigen griechischen Empiriker erhebt, und die trotz der

auch ihr noch anhaftenden nationalen und geschichtlichen Beschränktheit jedenfalls eine hochbedeutsame Einsicht im psychologischen wie im ethischen Sinne enthält. Die richtige Lust entspringt aus der Tätigkeit. Lust und Tätigkeit gehören untrennbar zusammen. Tätigkeit ist die Hauptsache im Leben. Jedes Wesen hat seine von der Natur ihm angewiesene, mit seiner Organisation gegebene Tätigkeit, und mit dieser Tätigkeit verknüpft sich eine Lust, die ebenso ihm eigentümlich ist, wie die Voraussetzungen seiner Tätigkeit. Ausdrücklich sagt Aristoteles, er wolle es unentschieden lassen, ob man wegen der Lust nach dem Leben, oder wegen des Lebens nach der Lust verlange, da ohne Tätigkeit keine Lust entsteht, alle Tätigkeit aber in der Lust ihr Ziel findet und durch die Lust erst vollkommen wird. 30 Je besser eine Tätigkeit geübt wird und je mehr sie mit dem ganzen Wesen eines Menschen eins geworden ist, desto größere Lust begleitet sie. Und umgekehrt: die Lust steigert die Tätigkeit, aus welcher sie erwächst; wer mit Freuden tätig ist, urteilt schärfer und arbeitet genauer (X, 4—5).

Diese fein beobachtete Theorie wäre geeignet gewesen, vielen der späteren Diskussionen über das Verhältnis der Lust zum Leben und insbesondere zum sittlichen Leben den Boden zu entziehen, wenn man sie richtig verstanden hätte. Späteren Einseitigkeiten gegenüber zeichnet sie sich durch die Festlegung zweier Punkte aus. Das Moment der Lust ist aus dem Leben nicht zu eliminieren: dies gegen die psychologische Grundlage aller asketischen Ethik. Die Lust selbst aber wurzelt in unserer Tätigkeit; Anlagen und Triebe sind also ihre genetische Voraussetzung: dies gegen jede Theorie, welche den ganzen und vollen Menschen und sein komplexes praktisches Verhalten aus dem Verlangen nach Lust allein erklären zu können meint.

Indessen ist mit dieser Verknüpfung der Begriffe Lust und Tätigkeit noch kein Kriterium für die Unterscheidung des Wertes verschiedener Lustarten gewonnen. Denn von den Tätigkeiten selbst heißt es (X, 2), daß sie sich nach sittlicher Güte und Schlechtigkeit unterscheiden und ebenso verhält es sich auch wieder mit den verschiedenen Arten der

Lust. Die Lust, welche der tugendhaften Tätigkeit zugehört, ist gut und die der schlechten zugehörige schlecht. Wie soll nun aber wieder bestimmt werden, welche Tätigkeit sittlich und welche unsittlich ist, da offenbar nicht alle Lust aus Tätigkeit auch schon sittlich wertvoll ist? Darauf hat nun Aristoteles keine andere Antwort als den Hinweis auf den vollkommenen und daher glücklichen Menschen. Man hat nur das Tun eines solchen Menschen zu beobachten, so wird man sagen dürfen, daß die Arten der Lust, welche dessen Tätigkeit mit sich führt, die vornehmsten bei den Menschen sind. Der Mensch in guter Verfassung ist das Maß für jedwedes: nur das, was dieser als angenehm empfindet, wird wahre Lust sein; ja Aristoteles geht so weit, daß er nicht nur die immerhin bedenkliche Unterscheidung von wahrer und falscher Lust macht, sondern das, was dem verderbten Menschen gefällt, nicht einmal als Lust ansehen will (X, 2, 6).

Dies scheint ein Gedankengang im Kreise zu sein 31: gesucht wird eine begriffliche Bestimmung für das sittlich Richtige, für das Gute, und die Erörterung endet mit dem Hinweise auf den guten und glücklichen Menschen. Indessen mag dieser Mangel mehr auf die wenig systematische, ungeordnete und zerfahrene Darstellung zurückzuführen sein, in der uns die Ethik des Aristoteles überliefert ist, als auf die aristotelische Theorie selbst. Zunächst fehlt es ja nicht an einer gewissen begrifflichen Bestimmung des hochstehenden, vornehmen Menschen. Der hochstehende Mensch ist derjenige, welcher die Eigenschaft zur Entfaltung bringt, die den Menschen als Gattung vorzugsweise von allen anderen Lebewesen unterscheidet die Vernunft und dadurch das spezifisch Menschliche in der reinsten Ausprägung zeigt. Der hochstehende Mensch ist derjenige, welcher glücklich ist in der Betätigung seiner Vernunft. Er ist darin am meisten Mensch, und die Lust, welche ihm aus dieser Selbstbetätigung zuwächst, ist die reinste und höchste, diejenige, an welcher alle übrige gemessen und abgeschätzt werden muß (X, 6). Die vernünftige Anlage aber verwirklicht sich auf doppelte Weise: theoretisch und praktisch, im reinen Denken und im Handeln. Mit großem Nachdruck hat Aristoteles von der sittlichen Würde und von

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