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auch bei heroischem Verhalten nicht heraus; auch die, welche für andere in den Tod gehen, wählen nur Großes und Schönes für sich (IX, 8).

Abgesehen aber von solch heroischer Betätigung ist das Maß dessen, was jeder dem anderen zu gewähren hat, gegeben in Recht und Gesetz. Gerechtigkeit ist für Aristoteles darum zwar nicht die Tugend überhaupt, aber die Tugend für andere. Und wie weit er von einem einseitigen Persönlichkeitsstandpunkt in der Ethik war, sieht man am besten aus der Wärme, mit der er für die Gerechtigkeit spricht. Er nennt sie die vollkommene Tugend, bewundernswerter als der Morgen- und Abendstern, weil der, welcher sie besitzt, auch gegen andere Tugend üben kann und nicht bloß gegen sich selbst. Und das sei viel: denn viele können in ihren eigenen Angelegenheiten die Tugend üben, aber nicht gegen andere. Das Verhältnis aber zwischen sittlicher Tüchtigkeit und Gerechtigkeit ist dieses, daß Tugend, sofern sie gegen andere geübt wird, Gerechtigkeit ist, während Gerechtigkeit als feste Willensrichtung sittliche Tüchtigkeit ist (V, 3).

3. Psychologie des Sittlichen

Noch bedeutsamer indessen sind die Gedanken, welche Aristoteles zur Psychologie des Sittlichen entwickelt. Hier finden wir Einsichten, mit denen Aristoteles seiner geistigen Umgebung weit vorangeeilt ist und ein Verständnis um die komplexen Zusammenhänge des sittlichen Werdens, wie es manche gefeierte Lehrer späterer Zeit vermissen lassen. Die vernünftige Prüfung des richtigen Maßes, die Abwägung in Beziehung auf das Zuwenig und Zuviel, gibt die inhaltliche Bestimmung für das praktische Verhalten, wie die Norm, nach welcher beurteilt wird. Aber wie entscheidend auch die Rolle ist, welche Aristoteles der Vernunft im Sittlichen zuerkennt aus ihr allein kann praktische Tugend nicht entstehen. Bezeichnend ist in diesem Punkte zunächst die wiederholte Polemik gegen Sokrates begründet ist oder nicht Sittlichkeit mit der Vernunft.

einerlei, ob sie historisch

und seine Identifizierung der Sokrates, sagt Aristoteles, traf

nur zum Teil das Richtige, aber zum Teil ging er fehl. Letzteres weil er annahm, daß alle sittliche Tüchtigkeit nur in der Einsicht bestände; dagegen hatte er recht, wenn er sagte, daß sie nicht ohne die Einsicht bestehen könnte (VI, 13). Und Aristoteles beruft sich auf ein Moment seiner Definition, welches nun auch in dem Zusammenhang dieser Darstellung hervorzuheben ist: die sittliche Tüchtigkeit, d. h. das Einhalten der richtigen Mitte, ist nicht bloß ein Vernunftgebot, sondern eine feste, zur Gewohnheit gewordene Willensrichtung, eine praktische Disposition. 37

Auf dieses Moment legt Aristoteles das größte Gewicht und diese Betonung des Charakterologischen und Vorsätzlichen in der Sittlichkeit hat am meisten zur Vertiefung seiner Theorie beigetragen. Daß bloßes Moralpredigen oder ethisches Theoretisieren und lebendige praktische Sittlichkeit zweierlei seien davon ist Aristoteles aufs innigste überzeugt gewesen. Sittlichkeit entsteht durch Gewöhnung oder Sitte weshalb sie auch ihren Namen mit einer kleinen Veränderung von der Sitte erhalten hat. 38

Wie man Schwimmen nur im Wasser lernt und Musik durch die Ausübung eines Instruments, so wird man gerecht durch gerechtes Handeln und mäßig und tapfer durch entsprechendes Verhalten (II, 1; I, 1 und 2). Aus dem gleichmäßigen Handeln bilden sich dauernde Gemütsrichtungen und ohne eine der Vernunft entsprechende Betätigung wird niemand gut werden. 39 Mit einer den intellektualistischen Neigungen der hellenischen Ethik gegenüber treffenden Ironie setzt Aristoteles hinzu: „Viele handeln indessen nicht so, sondern flüchten zur Theorie und glauben durch Philosophieren sittlich werden zu können. Sie machen es wie die Kranken, welche den Arzt zwar sorgsam anhören, aber von seinen Anordnungen nichts befolgen. Und so wenig solche Kranke körperlich gesund werden können, so wenig werden jene aus ihrem Philosophieren Heil für die Seele gewinnen" (II, 3).

Mit der größten Bestimmtheit wird es demgemäß von Aristoteles ausgesprochen: Gutsein ist eine Tat (II, 9). Gut ist niemand von Natur; man wird gut durch ein der Norm entsprechendes praktisches Verhalten. Wir besitzen die Sitt

lichkeit nicht von der Natur und auch nicht gegen die Natur. Wir haben die Anlage zu ihrer Erlangung, der eine mehr, der andere weniger; der eine besonders für diese, der andere mehr für jene Tugend; wir müssen sie aber durch Gewöhnung vollständig erwerben. Und daher der außerordentliche Wert, den Aristoteles auf die ethische Pädagogik legt: alles kommt darauf an, ob man sich in der Jugend nach der einen oder nach der anderen Richtung gewöhnt. Die richtige Erziehung besteht, wie er Plato zustimmend sagt, darin, von Jugend auf so geleitet zu werden, um sich über die Dinge zu freuen und zu betrüben, über welche man sich freuen und betrüben soll. Mit völliger Klarheit hat Aristoteles gesehen, wenn auch nur in flüchtigen Andeutungen es aussprechend, daß alle ethische Erziehung der unermeßlich wichtigen Triebkraft der Lust- und Schmerzgefühle bedürfe (II, 2), daß aber der Weg zur sittlichen Tüchtigkeit von der Heteronomie zur Autonomie gehe wenn es gestattet ist, diese Ausdrücke Kantischer Philosophie auf den entsprechenden Gedanken des Aristoteles anzuwenden. Der Zusammenhang der Sittlichkeit mit Lust und Schmerz erscheint nämlich auf doppelte Weise. Zunächst in der Anwendung von Züchtigungen und Strafen, durch welche ein bestimmtes Handeln erzwungen wird. Sie wirken als eine Art Heilmittel in entgegengesetztem Sinne; denn wegen einer bestimmten Lust tut man oft das sittlich Schlechte; und wegen einer Unbequemlichkeit oder eines Schmerzes enthält man sich des sittlich Guten. Ist aber durch ein gewohnheitsmäßiges Handeln einmal eine bestimmte Willensrichtung festgeworden, so tritt zu dem Handeln, welches aus ihr folgt, und gewissermaßen als Zeichen, daß hier eine neue Natur im Menschen begründet worden ist, Lust und Schmerz hinzu. Und in diesem Zusammenwirken von Gefühl und Willen besteht eben das Ethos des Menschen: „Wer sich der sinnlichen Lust enthält und dieses Enthaltens sich freut, der ist mäßig, und wen dies schmerzt, der ist unmäßig; und wer das Schreckliche ruhig erwartet und nicht davon betrübt wird, der ist tapfer, während der darüber Niedergeschlagene feig ist". Es ist die gleiche Einsicht, welche von ganz anderen Voraussetzungen aus viele Jahrhunderte später Spinoza

in dem Satze ausgesprochen hat: „Die Seligkeit ist nicht der Lohn der Sittlichkeit, sondern sie ist die Sittlichkeit selbst; und wir erfreuen uns ihrer nicht deswegen, weil wir die Lüste dämpfen, sondern im Gegenteil: weil wir uns ihrer erfreuen, darum können wir die Lüste dämpfen“.4o

Neben der richtigen Gewöhnung und dem aus ihr sich ergebenden Handeln hat Aristoteles das Moment der Gesinnung im Sittlichen keineswegs übersehen. Zu den bereits gegebenen Bestimmungen des Sittlichen tritt nämlich noch eine neue ergänzende hinzu, von Aristoteles angeknüpft an die Frage, wie es denn zu verstehen sei, daß man durch gerechtes Handeln gerecht und durch mäßiges Verhalten mäßig werde, weil ja der gerecht oder mäßig Handelnde bereits gerecht oder mäßig sei. Diese Antinomie löst sich dadurch, daß sittlich tüchtig nicht jeder genannt werden kann, der etwa eine gerechte oder mäßige Handlung vollführt, sondern nur der, welcher solche Handlungen in einer bestimmten psychischen Verfassung vollführt 41: nämlich wenn er mit vollem Bewußtsein sich entschlossen hat und fest und ohne Schwanken handelt (II, 3).

Der Entschluß ist ein überlegtes Begehren von etwas, das in unserer Macht steht. Er deckt sich keineswegs mit dem Freiwilligen. Das Freiwillige ist vielmehr der weitere Begriff, da an dem Freiwilligen auch Kinder und Tiere teil haben, aber nicht an Entschlüssen; auch nennt man das plötzliche Handeln wohl ein freiwilliges, aber nicht ein beschlossenes. Den Begriff des Freiwilligen steckt Aristoteles überhaupt sehr weit. Und man sieht deutlich, daß er mit dem indeterministischen Gedanken der Motivlosigkeit oder des Unverursachten gar nichts zu tun hat. Freiwillig ist jede Handlung, in der ein Wille zum Ausdruck kommt; jede Handlung, die als solche von einem Wesen gewollt wird. Darum darf man nach Aristoteles das, was im Eifer und in der Begierde getan wird, nicht zum Unfreiwilligen zählen; und ebensowenig etwa das Guthandeln freiwillig, das Schlechthandeln unfreiwillig nennen. In Bezug auf Freiwilligkeit unterscheidet sich die mit Ueberlegung begangene Untat von der im Affekt begangenen keineswegs. Unfreiwillig und darum von der sittlichen Beurteilung ausgeschlossen ist nur dasjenige Handeln, wozu wir durch

fremde Macht gezwungen werden und dasjenige, dessen Wirkungen zu überschauen vollständig außer unserer Macht liegt vorausgesetzt, daß der Handelnde an dieser Unwissenheit nicht selber Schuld trägt.

Jede Handlung, die wir nicht auf einen anderen Anfang als in uns selbst zurückführen können, steht in unserer Gewalt und ist freiwillig. Wenn das Handeln von uns abhängt, so auch das Nichthandeln; und wenn das Rechthandeln, so auch das Schlechthandeln. Wir sind die Urheber unserer Taten so gut wie die Väter unserer Kinder. Und es ist widersinnig, zu sagen, daß der ungerecht Handelnde nicht ungerecht oder der Ausgelassene nicht ausgelassen sein wolle.

Den Grundsatz: Operari sequitur esse, alles Handeln weist zurück auf ein Sein, hat Aristoteles, ohne ihn zu formulieren, mit dem größten Nachdruck vertreten. Aber daraus irgend welche Entschuldigung oder Abschwächung des sittlich Verkehrten ableiten zu wollen, lag ihm gänzlich fern. Die Behauptung, daß jedermann das begehre, was ihm gut scheine; daß man seinen Gedanken nicht gebieten könne, und daß nach der Beschaffenheit eines jeden sich auch seine Wünsche und Ziele richten müßten, weist er auf das entschiedenste zurück mit der Bemerkung, daß dann niemand die Schuld seines schlechten Handelns tragen, sondern alle Unsittlichkeit nur Krankheit und Unwissenheit sein würde.

Freilich ist Aristoteles ein zu gewiegter Psychologe gewesen, um sich dem Wahne hinzugeben, als ob es nun im einzelnen Fall von einem bloßen Entschluß abhänge, sich so oder anders zu verhalten. „Der Wille ist kein Hexenmeister," hat viele Jahrhunderte später Ludwig Feuerbach gesagt. Auch der Kranke kann durch sein bloßes Wollen nicht gesund werden. Und wer eine Neigung zum Unrechttun in sich hat wachsen lassen, der wird bloß darum, weil er einmal nicht ungerecht sein will, nicht aufhören ungerecht zu sein, und durch ein solches (vereinzeltes, einmaliges) Wollen noch kein Gerechter werden.42

Aber umso wichtiger wird es — eben wegen dieser Bestimmtheit unseres Tuns durch unsere festgewordenen Neigungen und Eigenschaften auf die Ausbildung unserer

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