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welcher die Restauration des historischen Kirchenwesens ihre letzten Impulse und ihre wissenschaftlichsten Formeln empfing; in ihm wurzelt auch heute noch alles, was dem Humanismus und Positivismus abgeneigt ist und offenen oder heimlichen Dualismus im Herzen trägt. Das deutsche Volk hat entschieden zwischen Kant und Feuerbach. Ob es sich dieses Entscheids zu freuen hat? Ob die Geschichte die große Schicksalsfrage noch einmal stellen wird?

Anmerkungen zum I. Kapitel

1 Zur Geschichte der antiken Ethik vergleiche man außer den Darstellungen in den allgemeinen Werken über Geschichte der Philosophie und speziell der alten Philosophie in erster Linie die treffliche Arbeit von Theobald Ziegler: Geschichte der Ethik. 1. Abteilung: Die Ethik der Griechen und Römer (1882); reichliche Quellen belege und zahlreiche Exkurse enthaltend; Karl Köstlin: Geschichte der Ethik. Darstellung der philosophischen Moral-, Staats- und Sozialtheorien des Altertums und der Neuzeit. 1. Bd.: Die Ethik des klassischen Altertums. Erschienen ist nur die erste Abteilung dieses Bandes (1887), mit Plato und der alten Akademie abschließend, umfassende, durchwegs aus den Quellen geschöpfte Kenntnis vermittelnd. Zur gesamten Ethik des Altertums vergleiche man die wertvollen Essais, mit welchen Alex. Grant seine Ausgabe der Nikomachischen Ethik eingeleitet hat. Für den Zusammenhang mit metaphysisch-religiösen Problemen: Edw. Caird, The evolution of theology in the Greek philosophers, 2 Bde, 1904 und Wilhelm Bender, Mythologie und Methaphysik. Die Entstehung der Weltanschauung im griechischen Altertum (1899). Von älteren Arbeiten ist immer noch wertvoll Emil Feuerlein: Die philosophische Sittenlehre in ihren geschichtlichen Hauptformen; I. Band: Die Sittenlehre des Altertums. Geistreich und viele feine Charakteristiken enthaltend auch die Arbeit von Heinrich Gomperz: Die Lebensauffassungen der griechischen Philosophen. 1904. Nicht auf die Ethik sich beschränkend, sondern die Gesamtheit des antiken Denkens heranziehend, aber viele wichtige Details zur Ethik enthaltend und namentlich durch den leitenden Gesichtspunkt, Zusammenhang zwischen Hellenismus u. Christentum instruktiv, ist Ernest Havet: Le Christianisme et ses Origines. Bd. 1 u. 2: L'Hellénisme.

2 Dies ist von jeher anerkannt worden, und auch die neueste Durchforschung der Anfänge griechischer Philosophie hat an diesem Ergebnis nichts geändert. Vgl. Heinze: Der Eudämonismus in d. griech. Philos. (Abhandlgn. d. sächs. Gesellsch. d. Wissensch. 19. Bd.); Ziegler, Gesch. d. Ethik, 1. Bd.; Gomperz, Griech. Denker, 1. Bd. Auch bei Heraklit scheint seine schöne Lehre von der Ergebung in den Weltlauf oder der Unterordnung unter das allwaltende Gesetz als dem wahren Geheimnis aller Glückseligkeit Stoizismus und Spinozismus im Keime

nur als

ein Aperçu aufzutreten, in dem ontologische und normative Bedeutung ungeschieden nebeneinander liegen. Nur Demokrit hat über den Fundamentalbegriff jeder wissenschaftlichen Ethik, über die Glückseligkeit, in systematischer Weise gehandelt. (Heinze a. a. O. S. 703.) Er gehört aber, wenigstens der Zeit nach, bereits in die große, systematische Periode, für welche ihn Windelband (Gesch. d. Philos., Einleitg. § 3) auch inhaltlich entschiedenst in Anspruch nimmt. Empedokles aber muß, wie die erhaltenen Reste seines Buches von den „Reinigungen“ oder von der „Versöhnung“ zeigen, auf ethischem Gebiete durchaus zu den Anhängern des orphischpythagoreischen Systems gezählt werden, von welchem unten ausführlicher gehandelt wird. (Th. Gomperz, Griech. Denker, I, 199 f. u. Heinrich Gomperz, D. Lebensauffassg. d. griech. Philos., S. 42 f.)

3 Für dies Ineinandergreifen und wechselseitige Sichbedingen von Sitte und Sittenlehre, von Ethos und Ethik, vergleiche man die Darstellungen von Leopold Schmidt: Die Ethik der alten Griechen (1882) u. Karl Köstlins einleitende Abschnitte: Das sittliche Prinzip des Griechentums u. Die populäre Lebensweisheit des älteren Griechentums (Gesch. d. Ethik, 1. Bd., 1. Abtlg., S. 117-159). Beide Betrachtungsweisen, die sittengeschichtliche und die philosophische, sucht Ziegler zu vereinigen in dem Abschnitt: Griechische Sitte u. Sittlichkeit in d. Zeit des Werdens u. Blühens (Gesch. d. Ethik, 1. Bd., S. 5-20).

4 S. darüber Hoyer: Die Heilslehre (1897), S. 10 f.

5 Vgl. besonders Gomperz, Griech. Denker, 1. Bd., 5. Kapitel; E. Maas, Orpheus, Unters. z. griech., röm., altchristl. Jenseitsdichtung u. Religion; E. Rohde, Psyche. Seelenkult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen; Wilhelm Bender, Mythologie und Metaphysik, 4. Kap.

6 Hubert Röck, Der unverfälschte Sokrates, S. 142 ff., ist den Spuren atheistischer Denkweise in der Zeit vor und um Sokrates sorgfältig nachgegangen. Daß auch bei Männern wie Heraklit und Anaxagoras das, was sie Seele oder Vernunft nennen, im Menschen wie in der Welt, vorwiegend im physikalischen oder mechanischen Sinne als eine Bewegungskraft erscheint und nicht als eine übernatürliche Wesenheit, wird kaum bestritten werden können. S. Windelband, Gesch. d. Philos., § 6.

7 Daß wir aus dem Altertum keine Darstellung des Sokrates besitzen, welcher mehr als ein litterarisch-fiktiver Wert zukommt, daß weder die Notizen des Aristoteles, noch die Memorabilien Xenophons, weder die Apologie Platons noch die „Wolken" des Aristophanes als eigentlich historische Zeugnisse gelten dürfen, scheint aus dem Kriege der Meinungen und Bücher als letztes Wort hervorzugehen. Die Erörterung der Gegensätze, wie sie in den Arbeiten von Joel: Der echte und der xenophontische Sokrates; von Döring: Die Lehre des Sokrates als soziales Reformsystem u. Geschichte der griechischen Philosophie; von Röck, Der unverfälschte Sokrates, sowie in den mehr vermittelnden Darstellungen von Zeller und Gomperz hervortreten, gehört nicht an diese Stelle.

8 Vgl. namentlich Gomperz, Griech. Denker, 1. Bd., mit Döring,

Gesch. d. griech. Philos., 1. Bd. Vortreffliches übrigens schon in J. St. Mills Aufsatz über Plato im Anschluß an G. Grotes großes Werk (Mills Ges. Werke, deutsche Ausg., 12. Bd.) u. Bernh. Münz: Die vorsokratische Ethik (Zeitschr. f. Philos. u. philos. Krit., 81. Bd., S. 245 ff.).

9 Ob auch Gorgias zu dieser älteren, konservativ oder wenigstens positiv gerichteten Generation gerechnet werden müsse, wie Gomperz tut, oder, wie Döring auf Grund der platonischen Dialoge Menon und Gorgias annimmt, schon radikalere, auflösende Tendenzen im ethischen und politischen Sinne ankündigt, mag unentschieden bleiben. Daß alle Genannten sich auch mit wirtschaftlichen und staatstheoretischen Untersuchungen beschäftigt haben, von denen uns freilich nur die dürftigsten Spuren erhalten sind, zeigt ausführlich Döring, Die Lehre d. Sokrates, S. 566 f.

10 Am wirksamsten und überzeugendsten aus Plato, ihrem entschiedensten Gegner. Grote und Mill haben eingehend gezeigt, daß weder dem Protagoras noch Prodikos noch Hippias irgendwo eine unmoralische Lehre in den Mund gelegt werde, sondern daß sie sämtlich nur als Lehrer einer in Platos Augen nicht genügend fundierten, nicht wissenschaftlich durchgebildeten Moral erscheinen.

11 Den besten Beweis dafür liefert wohl Plato selbst, der in der Staatslehre (Polit. VI. B. 492 A u. 493 A) ausdrücklich gegen die weitverbreitete Meinung polemisiert (der ja auch Sokrates zum Opfer gefallen war), daß die Sophisten und ähnliche Leute die Verderber der Jugend seien. Der wirkliche Verderber der jungen Leute sei die Gesellschaft selbst, welche ihnen in ihrem ganzen Tun und Treiben einen falschen Maßstab des Guten und Bösen vor Augen führe und ihren Strebungen eine völlig verkehrte Richtung gebe. Die sogenannten Sophisten lehren nichts anderes als die eigenen Ansichten der Menge und heißen dies Weisheit.

12 Ueber die Moral-Skepsis des Protagoras s. Harpf, Die Ethik des Protagoras u. deren zweifache Moralbegründung kritisch untersucht; und Laas, Idealismus u. Positivismus, I, 273. Vgl. auch neuerdings R. Richter, Der Skeptizismus in der Philosophie, 1. Bd., S. 14. Ueber den Gegensatz des Natürlichen und des Konventionellen, des Naturrechts und Gesetzesrechts im griechischen Denken dieser Zeit s. die wichtige Erörterung bei Gomperz, Griech. Denker, I, 323–351. Den aufklärerischen Charakter der Sophistik betont namentlich Döring, Gesch. d. griech. Philos., 1. Bd., S. 324, 332, 342.

13 Auf diesen Punkt haben schon Grote und Mill und neuerdings wieder Th. Gomperz, Griech. Denker, I, 338, aufmerksam gemacht. Die ,,Sophisten", welche Plato in seinen späteren Werken aufs grimmigste bekämpft, sind nicht jene älteren Wanderlehrer, deren Zeit schon vorüber war, als Plato zu schreiben begann, sondern Angehörige seiner Zeit, die er mit diesem Namen brandmarkt. Auch Döring (Griech. Philos.) scheidet scharf zwischen der Sophistik des 5. und der Sophistik des 4. Jahrhunderts. Es scheint übrigens fraglich zu sein, ob wir es bei den Personen, die Plato im Gorgias, im Menon, im Protagoras und in der Politeia als Vertreter

eines gewissen Immoralismus auftreten läßt, Polos, Kallikles, Thrasymachos, wirklich mit historischen Figuren zu tun haben und wenn man schon diese Frage bejahen will ob es Vertreter von irgendwie theoretisch und litterarisch formulierten Ansichten seien oder nur Träger von Ansichten, die in der griechischen Oeffentlichkeit unter Staatsmännern und Rhetoren gang und gäbe waren, ohne freilich je in dieser Prägnanz und Ungeniertheit ausgesprochen zu werden. Wahrscheinlich hat bei der Lektüre gewisser Stellen dieser Dialoge der griechische Leser dasselbe Gefühl gehabt, wie der Franzose des 18. Jahrhunderts beim Erscheinen des Buches,, De l'Esprit" von Helvetius und der Deutsche des 19. Jahrhunderts vor Nietzsches „Jenseits von Gut und Böse“: „Cet homme a dit le secret de tout le monde". 14 Diese sozial-ethische oder sozial-reformatorische Tätigkeit des Sokrates mit Nachdruck aus den Zeugnissen des Altertums wiederhergestellt und wenigstens in gewissen Umrissen gezeichnet zu haben, ist das Verdienst von Döring, Die Lehre des Sokrates als soziales Reformsystem, und von Röck, Der unverfälschte Sokrates.

15 Dies hat Heinr. Gomperz, a. a. O. S. 109, mit Recht betont. Er sieht das Wesen der sokratischen Lehre in der mehr durch sein Beispiel als durch ein Begriffssystem dargestellten Idee der inneren Freiheit und leugnet durchaus, daß die sokratische Forderung des sittlichen Wissens nicht bloß dieses Postulat, sondern auch eine bestimmte Erfüllung desselben bedeutet habe.

16 Bei diesem Vergleich ist selbstverständlich gerne zuzugeben, daß der Vorteil der Erkenntnis im geschichtlichen Sinne durchaus auf Seite des Sokrates bildes ist. Denn Sokrates ist für uns in den Berichten von Männern erhalten, die ihn persönlich gekannt haben und für das Volk schrieben, in dem Sokrates lebte und starb. Das Leben Jesu ist von Leuten geschrieben worden, die ihn nie mit Augen gesehen haben, in einer anderen Sprache als der, in welcher er lehrte, und für andere Stämme, als den, in welchem er auftrat. Darum ist Sokrates, trotz aller Kontroversen, die sich an ihn knüpfen mögen, doch eine durchaus real-historische Gestalt, Jesus nur ein ethisch-religiöses Phantasiebild, hinter dem das geschichtlich Reale vollkommen verschwindet.

17 Dies tritt besonders deutlich aus dem platonischen Dialog Protagoras hervor, wo dem Sophisten eine vortreffliche, ganz modern klingende Auseinandersetzung über die allgemeine Grundlage des Rechtsgefühls in der sozialen Gemeinschaft und die allgegenwärtige Wirksamkeit des Königs Nomos in den Mund gelegt, aber die Schwäche seines Standpunkts gegenüber dem des Sokrates gerade darin gesehen wird, daß er meint, Gerechtigkeit, Tugend, Gut und Böse, seien bekannte, genau definierte, unbestreitbare Dinge, welche von allen verstanden werden. (Vgl. Grote, Plato, 2. Bd., S. 47, 73, 77.) Daß übrigens auch Sokrates selbst für die Bedeutung dieses Moments (des Gesetzesgehorsams) keineswegs blind war, zeigt die Nachricht der Memorabilien des Xenophon (IV, 4), wonach er auf Drängen des Hippias Gerechtigkeit definiert habe als có vóμpov: das den Gesetzen

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