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entsprechende Verhalten eine Antwort, welche dort als eine den Sophisten keineswegs befriedigende hingestellt wird wenn dieser Bericht zuverlässig ist. Auch an den platonischen Dialog Kriton darf man erinnern, in welchem Sokrates das Anerbieten, ihn nach seiner Verurteilung aus dem Kerker zu befreien, zurückweist mit der Begründung: auch ungerechten Gesetzen habe man sich zu fügen. Vielleicht ist dieser Gedankengang umso sicherer sokratisch, als er gewiß unplatonisch ist.

18 Aristoteles, Nikomachische Ethik, VI, 13; VII, 3—5; Eudemische Ethik, I, 5; VIII, 1; Große Ethik, I, 1. Die Bedeutung dieser Aristotelischen Angaben, auf welche Joël das ganze Bild des Sokrates gründet und welche auch Gomperz' Auffassung bestimmen (Griech. Denker, II, 53 ff., 285), wird von Döring, D. Lehre d. Sokrates, S. 553 ff., scharf und treffend kritisiert. Vgl. auch Röck, Der unverfälschte Sokrates, S. 248 ff., welcher mit Entschiedenheit die Ansicht vertritt, „daß man bei keinem einzigen griechischen Philosophen den naiven Glauben an eine unbedingte Lehrbarkeit der Tugend wirklich nachweisen könne“ (a. a. O. S. 285); freilich auch zugeben muß, daß die Zurückführung dieses Glaubens auf die dem sokratischen Kreise angehörigen Denker schon dem Altertum angehöre, wie ja auch die Polemik gegen diese Lehre sich sowohl bei Plato als bei Xenophon findet.

19 Dies wird von Theod. Gomperz, Griech. Denker, II, S. 63 f., von Döring, Die Lehre d. Sokrates, S. 368, 392 f., 574, und insbesondere von Röck, Der unverfälschte Sokrates, S. 421 ff. auf das entschiedenste betont. Ebenso übrigens auch schon Heinze, Der Eudämonismus in d. griech. Philosophie.

20 Unsere Kenntnis ist freilich so mangelhaft, daß wir nicht einmal diesen Punkt völlig sicherstellen können. Während August Döring in einem „Neuen Versuch zur Lösung des Problems der Sokratischen Philosophie" dazu gelangt, die Lehre des Sokrates „als soziales Reformsystem “ aufzufassen, und Röck (Der unverfälschte Sokrates) wichtige Gedanken der platonischen Staatslehre auf Sokrates und seinen sozialen Eudämonismus zurückführt, erinnert Gomperz an den merkwürdigen Satz der platonischen Apologie: „Wer das Unrecht wahrhaft bekämpfen will, dessen Platz ist im Privatleben, nicht im öffentlichen Leben“, und meint, es sei schwer, sich einer Regung schmerzlichsten Bedauerns zu erwehren, wenn man sieht, wie eines der bildsamsten und edelsten Völker von einigen seiner besten Männer verlassen wird, die ihm kaltsinnig den Rücken kehren und jede an seine Erziehung gewendete Mühe für verschwendet erklären. Und er weist hin auf die auch in der sokratischen Schule fortdauernde Entfremdung zwischen der Philosophie und dem attischen Staat, auf die absichtliche Vermeidung des öffentlichen Lebens durch Antisthenes und Aristipp, auf das Weltbürgertum, welches in der Schule des ersteren geradezu verkündet und zum herrschenden Glaubenssatz geworden sei (Griech. Denker, II, 92-93). Aber gibt es für den Denker denn nur den Weg, selbst ein Staatsamt anzunehmen oder die politische Tribüne zu besteigen, um reformierend wirksam zu sein? Rousseau und Bentham, zwei einsame

Schriftsteller, haben auf die Umgestaltung des Rechts- und Staatslebens in der ganzen zivilisierten Welt mächtiger eingewirkt, als irgend ein Staatsmann oder Politiker. "L'esprit mène le monde; mais le monde n'en sait rien." Die Abneigung gegen eine unmittelbar praktische Betätigung in der Politik braucht noch nicht Gleichgültigkeit gegen soziale und politische Fragen überhaupt zu bedeuten. Und es ist nicht ausgeschlossen, daß Sokrates nicht nur der Welt, sondern auch dem athenischen Staatswesen am besten zu dienen glaubte, wenn er die heranwachsende Generation mit seinen Ideen erfüllte. Vgl. Kap. III, Anm. 21.

21 Die Entscheidung dieser Frage ist wesentlich bedingt von dem Grade des Vertrauens, welches man der Darstellung Xenophons schenkt. Daß die weitverbreitete Abneigung, eine Persönlichkeit wie Sokrates als Atheisten zu denken, in diesem Falle Xenophon besonders zu gute kommt, hat Röck, der entschiedenste Vertreter der Ansicht vom grundsätzlichen Atheismus des Sokrates, gewiß treffend hervorgehoben. Aber auch für diese Ansicht ist nur ein Indizienbeweis möglich. (Röck, a. a. O. S. 91 bis 195. Vgl. Gomperz, Griech. Denker, II, 69 u. 72.)

22 Dies hat, namentlich gestützt auf das Zeugnis der Platonischen Apologie, Gomperz, Griech. Denker, II, 88, mit dem größten Nachdruck hervorgehoben. „Viel ist darin von Göttern die Rede; aber von Knechtsinn gegenüber göttlichen Machtgeboten, von Götterfurcht irgend einer Art, ist ihr Wesen so frei, wie das Lehrgedicht des Lukrez." Gerade im Munde eines Plato, eines Mannes von durchaus theologisierendem Gepräge, hat dies Zeugnis besonderen Wert.

Anmerkungen zum II. Kapitel

1 Die Auffassung der kynischen und kyrenaischen Schule als Vorläufer der stoischen und epikureischen ist wohl allgemein. Die weitverbreitete Abneigung gegen den Eudämonismus hat aber in vielen Darstellungen aus den Kyrenaikern eine Art Karikatur gemacht. Es ist ein besonderes Verdienst der neuen Arbeiten von Theodor und Heinrich Gomperz, dieser vielverkannten Denkweise aus den Trümmern der Ueberlieferung zu einer verständlichen Fassung verholfen zu haben. S. Theod. Gomperz, Griech. Denker, 2. Bd, S. 170-199, und Heinr. Gomperz, Lebensauffassung etc., VII. Vorlesg. Bei ersterem ist die durchgängige Illustration des Kyrenaismus durch die leitenden Gedanken des modernen Utilitarismus besonders instruktiv.

2 Vgl. Döring, Griech. Philos., I, 500 u. Gomperz, Griech. Denker, II, 134 f.

3 S. Windelband, Geschichte d. Philos., § 7.

4 Dieser intellektuelle Zusammenhang zwischen dem Kynismus und der älteren Stoa scheint mir insbesondere in gewissen Kruditäten Zenons zu Tage zu treten, welche das stoische Prinzip des naturgemäßen Lebens in dem Sinne des Gegensatzes gegen alles Konventionelle, gegen die Kultureinrichtungen, ausdeuten. Seine Anschauungen über die Gleichheit der Kleidung bei Männern und Weibern, über Knaben- und Verwandtenliebe, über den Genuß von Menschenfleisch, erinnern außerordentlich an jene bestialisierenden Tendenzen, welche bei den Kynikern hervorgetreten waren. Vgl. Feuerlein, Philos. Sittenlehre, I, S. 175 u. Zeller, Philos. d. Griechen, III, 1, S. 350 f. (3. Aufl.).

5 Hatch, Griechentum und Christentum (Deutsch v. Preuschen) stellt die Vermutung auf, daß der Kynismus der Kaiserzeit eine Art Reaktion gegen den weltmäßig und hoffähig gewordenen Stoizismus gewesen sei, und macht darauf aufmerksam, daß bei Epiktet, den man doch unter die Stoiker rechnet, das Bild seines Idealphilosophen die Züge eines Kynikers trage (Dissertt, III, 22: Hepi Kovoμoo). Im Gegensatze dazu macht Bonhöffer (Die Ethik Epiktets, S. IV) darauf aufmerksam, welcher Geringschätzung diese späten Kyniker nach dem Zeugnisse des Lukian begegneten, und daß Epiktet selbst es klar ausgesprochen habe, in wohlgeordneten

gesellschaftlichen Zuständen könne es keinem Besonnenen beifallen, „zu kynisieren". Der Kynismus bei Epiktet habe nur die Bedeutung, den Gedanken hervortreten zu lassen, daß es Menschen geben müsse, welche die Welt durch ihr persönliches Beispiel zur Umkehr bewegen und so die theoretische Arbeit der Philosophen praktisch unterstützen. Aber derselbe Lukian hat uns auch das schöne Bild des Kynikers Demonax gezeichnet, der als ein wahrer Priester der Humanität, als ein Seelsorger im besten Sinne des Wortes, dasteht.

6 Die wichtigste Originalquelle für Epikur ist das 10. Buch der Geschichte der Philosophen von Diogenes Laertius, das ausschließlich von Epikur handelt und in welchem einige Briefe desselben, sowie eine Sammlung von Hauptsätzen aus seinen ethischen Schriften erhalten sind. Das in anderen antiken Autoren erhaltene Material ist mit der größten Vollständigkeit zusammengestellt bei H. Usener: Epicurea. Leipzig 1887. Die eingehendsten Darstellungen des Epikureismus verdanken wir französischen Autoren. Schon um die Mitte des 17. Jahrhunderts verfaßte Pierre Gassendi mit Benutzung des ganzen damals zugänglichen Materials die Schriften: De vita, moribus et doctrina Epicuri; Lugduni 1647. Animadversiones in Diog. Laert. 1. X. Lugd. Bat. 1649; Syntagma Philos. Epicuri; Haag 1655 eine Ehrenrettung dieser vom Hasse der Kirche verfolgten Philosophie und ein Versuch, aus den erhaltenen Trümmern eine vollständige Weltanschauung, Naturphilosophie und Ethik, aufzubauen. Von den neueren Darstellungen ist die wichtigste die Preisschrift von M. Guyau: La Morale d'Epicure et ses rapports avec les doctrines contemporaines - den Grundgedanken sympathisch gegenüberstehend und sie in den vollen weltgeschichtlichen Zusammenhang rückend. Als Materialsammlung wichtig die Dissertation Paul v. Gizyckis: Ueber das Leben und die Moralphilosophie des Epikur. Halle 1879. Auch H. Gomperz: Die Lebensauffassung der griech. Philosophen, hat sich eingehend mit Epikur beschäftigt, vermag aber der Bedeutung seines Utilitarismus nicht völlig gerecht zu werden. Viel unbefangener Kreibig in seiner Monographie über Epikur (Wien 1886).

7 Ueber vorhandene Differenzen in der epikureischen Schule s. m. Hirzel, Untersuchungen z. Ciceros philos. Schriften, I, 98—190.

8 Daß epikureische Gedanken, namentlich in römischer Zeit, auch auf die konkurrierende Schule der Stoiker nicht ohne Einfluß gewesen sind, zeigt Seneca recht deutlich. Namentlich seine Briefe. S. Ribbeck, L. A. Seneca, und sein Verh. zu Epikur, Plato u. dem Christentum, bes. S. 7 u. f.; dann Weißenfels: De Seneca Epicureo. Programm. Berlin 1886. Ueber Epikur bei Seneca vgl. man die Angaben im Archiv f. Gesch. d. Philos., 4. Bd.

9 Ueber den außerordentlichen, lange anhaltenden Erfolg des Epikureismus und die hohe, fast göttliche Verehrung, die Epikur selbst genoß, s. Guyau, III. Buch, Conclusion. II. Dies ist ganz verständlich. Je höher die religiöse Flut im späteren Altertum stieg und mit ihr Wahn, aberJodl, Geschichte der Ethik. I. 2. Aufl.

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gläubische Furcht, Beunruhigung der Gemüter, umso stärker mußte die Anziehungskraft dieser durch und durch rationalen, durchsichtigen und heiteren Lebensauffassung werden.

10 Nach einer Stelle des hl. Hieronymus in seiner Schrift: De viris illustribus, cap. 12, existierte im Jahre 393 n. Chr., in welche Zeit diese Schrift des Hieronymus fällt, ein vielgelesener Briefwechsel des Apostels Paulus mit Seneca, welcher den Kirchenvater bestimmte, Seneca in das Verzeichnis der kirchlichen Schriftsteller aufzunehmen. Da auch Augustinus dieses Briefwechsels einmal Erwähnung tut, so galt Senecas Christentum im ganzen Mittelalter umsomehr als unbestritten, als mit Senecas Briefen an Lucilius eine solche aus vierzehn Briefen bestehende Korrespondenz tatsächlich überliefert war. Diese Korrespondenz wurde noch von F. Hase in seine Seneca - Ausgabe aufgenommen. Sie ist ferner zu finden bei Westerburg: Ursprung der Sage, daß Seneca Christ gewesen sei (Berlin 1881), und bei Fleury: Saint-Paul et Senèque (Paris 1853), lateinisch und französisch. Die Frage nach Senecas Christentum und nach der Echtheit dieser Korrespondenz, sowie nach der Identität der erhaltenen mit der den Kirchenvätern des 4. Jahrhunderts vorliegenden, hat die Gelehrten seit dem Zeitalter des Humanismus beschäftigt. Einen vollständigen litterarischen Ueberblick dieser Kontroversen bis zum Jahre 1850 in dem eben genannten Buche von Fleury, welches einen Einfluß des Christentums auf Seneca mit großem Aufwande von Gelehrsamkeit darzutun sucht. Dasselbe hat neuerdings noch Kreyher: L. A. Seneca und seine Beziehungen zum Urchristentum (Berlin 1887), glaubhaft zu machen gesucht. Diesen Annahmen gegenüber verhält sich allerdings die neuere Kritik meist ablehnend. S. Aubertin, Étude critique sur les rapports supposés entre Senèque et Saint-Paul; F. Chr. Baur: Seneca und Paulus, das Verhältnis des Stoizismus zum Christentum nach den Schriften Senecas (Drei Abhandlungen zur Geschichte der alten Philosophie und ihres Verhältnisses zum Christentum, hrsg. v. Zeller); Keim: Rom und das Christentum, S. 309 ff. und die oben erwähnte Arbeit von Westerburg. Diese Meinungen sind übrigens nicht auf Seneca beschränkt geblieben. Ernsthafte Männer haben gemeint, daß alle großen Errungenschaften der Philosophie im römischen Kaiserreich, namentlich auf ethischem Gebiete, dem Christentum entlehnt seien. Dem christlichen Seneca schlossen sich ein christlicher Plinius der Jüngere, ein christlicher Plutarch, Epiktet und Mark Aurel an. S. Karl Schmidt: Essai historique sur la société civile dans le monde Romain et sur sa transformation par le christianisme. Par. 1853. Alle diese Aufstellungen sind ungeschichtlich.

11 Vgl. F. A. Lange, Geschichte des Materialismus, 3. Aufl., 1. Bd., S. 152 u. 209, Anmerkg. 14; u. die Abhandlg. v. Julius Lessen, Epikur im Mittelalter (Philologus, 30. Bd., 1871).

12 S. Guyau, Morale d'Epicure, III. Buch, 1. Kap., Nr. I; Albert Haas: Ueber den Einfluß epikureischer Rechts- u. Staatsphilos. auf die Philos. des 16. u. 17. Jahrh. (Dissert., Berlin 1896).

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