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auch diese beiden Schulen, ja in gewissem Sinne sogar die epikureische, gingen darauf aus, den Menschen von den Wechselfällen des Lebens, von Glück und Schicksal, unabhängig zu machen, ihn ganz auf sich selbst und seine geistige Kraft zu stellen. Völlige Gelassenheit und Gemütsruhe sind das praktische Ergebnis sowohl für den, welcher erklärt: Ich weiß nicht und kann nicht wissen, ob etwas ein Gut oder ein Uebel ist; was immer kommt, es ist mir recht als auch für den, welcher sagt: Es gibt kein anderes Gut in der Welt als die praktische Vernunft und vollendete Selbstbeherrschung. Und man versteht von hier aus auch den Riß, der durch die höchst trümmerhafte antike Ueberlieferung in Bezug auf Pyrrho geht; denn dieser wird von den Skeptikern der späteren Zeit einstimmig als ihr geistiger Ahnherr gefeiert, von Cicero aber gar nicht mit den Skeptikern genannt, sondern mit den Stoikern, und zwar den Stoikern strengster Observanz, namentlich mit Ariston von Chios zusammengestellt.

2. Probabilismus der neueren Akademie.

Pyrrho selbst hat nichts geschrieben; erst sein Schüler Timon hat seinen Gedanken litterarische Form gegeben. Die Aehnlichkeit mit Sokrates hat sich schon dem Altertum aufgedrängt. Auch bei Pyrrho scheint es die Strenge und Konsequenz einer mit seinen Ueberzeugungen völlig übereinstimmenden Lebenshaltung gewesen zu sein, die nachhaltig wirkte; die theoretische Ausgestaltung seines Skeptizismus blieb Späteren vorbehalten, und es scheint zunächst vor allem die neuere Akademie gewesen zu sein, welche ihn in dieser Richtung fortbildete. Diese Fortbildung war schon aus logischen Gründen unvermeidlich. Denn es ist klar, daß die von Pyrrho geforderte praktische Indifferenz gerade auf seinem Standpunkte unmöglich wird. Nach den übereinstimmenden Angaben des Altertums hat sich der Skeptizismus niemals auf die Phänomene bezogen; die sinnliche Gewißheit, die unmittelbaren Daten der Erfahrung, ließ er bestehen. Dann muß er aber auch Lust und Schmerz gelten lassen und wie will man ihrer fundamentalen Verschiedenheit gegenüber die Adiaphorie, die Indifferenz

aufrechthalten?

Wer kann mit einem Schimmer von Wahrheit sagen: Ich habe keine praktische Richtschnur, weil ich nicht weiß, ob etwas Lust oder Schmerz bedeutet? Denn kein Einwand gegen die Möglichkeit einer über den Sinnenschein hinausgehenden Erkenntnis hat hier einen Sinn. Man kann sagen: Ich weiß nicht, ob der Honig, der mir süß erscheint, auch an sich süß ist; ob der Körper, der mir rot erscheint, auch wirklich rot ist. Aber man kann nicht sagen: Ich weiß nicht, ob der Schmerz, den ich fühle, auch wirklich ein Schmerz ist. Dies ist nur denkbar auf einem Standpunkte, für den der sinnliche Schein ganz bedeutungslos ist, und Wahrheit nur in der Vernunft und ihren Axiomen. Da kann dann gesagt werden: Dieser Schmerz, diese Lust sind in gar keiner Weise objektiv fundiert oder denkend zu begründen; sie müssen so behandelt werden, als wären sie gar nicht vorhanden.

Aber diese Art und Weise der Betrachtung läßt sich praktisch nicht durchführen. Die stoische Schule, dieser Typus des strengsten Rationalismus, wird zu der Unterscheidung von absoluten und relativen Gütern gedrängt (S. 93) und der Pyrrhonist zu einer kritiklosen Unterwerfung unter die konventionellen Regeln des praktischen Verhaltens. Und es scheint, daß die Form des ethischen Skeptizismus, welche in der neueren Akademie ausgebildet worden ist, auf der Erkenntnis dieser Sachlage ruhte.

Karneades, dem 2. Jahrhundert vor Christus angehörig, den wir als den wichtigsten Vertreter dieser Richtung betrachten müssen, wird besonders als Gegner der Stoa und ihrer Lehre vom höchsten Gute geschildert. Den Zirkel, in dem sich dieser Rationalismus bewegte, scheint Karneades mit völliger Klarheit erkannt zu haben. 56 Gibt es überhaupt relative Güter, bestehend in der Erreichung einzelner, natürlich begründeter Lebenszwecke, so kann man die Tugend nicht das einzige Gut nennen. Und ist die Sittlichkeit gleichbedeutend mit dem richtigen Vernunftgebrauche, so kann sich dieser doch nur auf die zweckmäßige Auswahl zwischen mehreren unserem Glücke dienenden Objekten oder Handlungsweisen beziehen. Glück aber und richtiger Vernunftgebrauch ist für die Stoiker das nämliche. Und so wäre für sie das höchste Lebens

ziel der richtige Vernunftgebrauch in Bezug auf die Auswahl und Bestimmung dessen, was uns zum richtigen Vernunftgebrauch dienlich ist. Der eigentliche moralphilosophische Gedanke des Karneades scheint darum der gewesen zu sein, den Begriff des Absoluten, des höchsten Gutes, der unbedingten praktischen Wahrheit, aus der Ethik zu eliminieren, und die stoische Schule bei ihrem praktischen Utilitarismus in Bezug auf die relativen Güter, die natürlichen Zwecke und Triebe, festzuhalten. In Bezug auf deren vergleichsweisen Wert und die praktische Richtigkeit des Verhaltens, in Bezug auf die eudämonologischen Wirkungen unserer Handlungen, scheint Karneades der skeptischen Denkweise die Wendung gegeben zu haben, daß er keinerlei feste, unbedingt gültige Bestimmungen, sondern nur wahrscheinliche Schätzungen gelten ließ ein Gedanke, der sich ja auch dem modernen Utilitarismus außerordentlich annähert, und gegenüber dem Dogmatismus der übrigen Schulen, namentlich der stoischen, und ihren bis ins kleinste hinein angeblich aus reiner Vernunft durchgeführten Lebensregeln 57 seine gute Berechtigung besitzt. Nur vermögen wir bei der Dürftigkeit unserer Quellen heute gar nicht mehr zu entscheiden, ob Karneades für diesen seinen Probabilismus bestimmte Richtungslinien in der gemeinsamen Erfahrung und im sozialen Denken der Menschheit anerkannt oder ob er denselben in streng individualistischem Sinne ausschließlich auf die persönlichen Schätzungen des Subjekts gegründet habe.

3. Skepsis des späteren Altertums

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Auf die sehr dunkle weitere Geschichte des antiken Skeptizismus kann hier nicht eingegangen werden. Es scheint, daß neben und nach dem ethischen Probabilismus der neueren Akademie auch der radikalere Pyrrhonismus wieder auflebte, 58 und es knüpft sich diese zweite Phase dieser Denkart vor allem an den Namen des Aenesidemus, neben Pyrrho vielleicht der gefeiertste Vertreter der Skepsis im Altertum. Wir dürfen ihn als einen Zeitgenossen Philos und Ciceros betrachten und seine Tätigkeit in die ersten Dezennien des ersten Jahrhunderts

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vor Christus setzen. Für das ethische Problem bedeutet er wenig. Von seiner Persönlichkeit und seinem Leben ist uns so gut wie nichts überliefert; und die subtile Dialektik seines Denkens, von der uns die erhaltenen Reste Kunde geben, richtet sich ausschließlich auf erkenntnistheoretische Fragen wenigstens ist die Anwendung derselben auf das ethische Gebiet für uns verloren. Einen gewissen Ersatz dafür bieten die Schriften des Mannes, in welchem gegen das Ende des 2. Jahrhunderts nach Christus der Skeptizismus des Altertums seine gelehrt-enzyklopädische Ausgestaltung und Darstellung fand, des Sextus Empiricus. Durch die Zeit, in welcher der Dogmatismus, der Glaube an das Unerfahrbare, das religiöse Bedürfnis der Menschennatur, die üppigsten Blüten trieb, und das Jenseits einem großen Teil der Menschheit gewisser wurde als das Diesseits, zieht dieser gegen alle Gebiete der menschlichen Erkenntnis sich richtende, und sie alle in bloßes Scheinwissen auflösende Zweifel wie ein fremder Klang, wie eine anders gefärbte Welle. Aber es scheint nur so. In Wahrheit gehören beide eng zusammen. Religiöser Dogmatismus, spekulative Phantastik und wissenschaftlicher Skeptizismus wurzeln im gleichen Grunde: sie sind Verfallserscheinungen, Kinder einer Zeit, der das schlichte Brot natürlicher Erkenntnis nicht genügt, die es unzufrieden mit den Fingern zerbröselt und dafür umso gieriger nach Paradiesesfrüchten Ausschau hält. Sextus Empiricus kehrt in seiner Kritik der Moralphilosophie zu den streng verneinenden Anschauungen des Pyrrhonismus zurück. Alle Ethik war die Suche nach einem Prinzip gewesen, welches entweder selbst als höchstes Gut bezeichnet werden. könnte oder die Erreichung des höchsten Gutes verbürge. Auf diese ganze Entwicklung zurückschauend, hält Sextus die Ethik zunächst an der Tatsache fest, wie groß die Meinungsverschiedenheiten zwischen den einzelnen Schulen und Richtungen in Bezug auf die Grundfragen der Ethik seien. Nirgends ein fester Punkt, nirgends ein von allen Philosophen anerkanntes höchstes Gut. Lieber verrückt sein als sich der Lust hingeben," hatte Antisthenes erklärt fast zur selben Zeit, da Aristippos die Lust zum höchsten Gut erhob. Alle diese Meinungen und Systeme halten offenbar gewisse Züge persönlicher Erfahrung, gewisse Tatsachen

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eines individuellen Wertbewußtseins fest. Aber je mehr man sie in diesem Sinne für berechtigt hält, umso weniger kann zwischen ihnen eine Entscheidung getroffen werden, da es an jedem Kriterium für eine solche fehlt. Diese Verschiedenheit in den Theorien ist auch vollkommen begreiflich, wenn man die Mannigfaltigkeit der Wertschätzungen bedenkt, welche dem praktischen Leben zu Grunde liegen. Würde es ein Gutes in eindeutigem Sinne geben, so müßte es doch auf alle Menschen die gleiche Wirkung üben. In Wirklichkeit gehen die Meinungen über Gut und Böse weit auseinander; nicht nur zwischen Menschen verschiedener Klassen und Stände, zwischen Gebildeten und Ungebildeten, sondern auch zwischen den Menschen verschiedener Zeiten und verschiedener Völkerkreise. Alles, was dem Altertum an Tatsachen divergierender Bewertung bekannt und von den früheren Skeptikern gesammelt worden war, wird von Sextus Empiricus sorgfältig verzeichnet.

Er entnimmt seine Beispiele den Sitten und Gesetzen, dem äußeren Brauche, ja dem, was verschiedenen Völkern für schön oder häßlich galt, aber auch den spezifisch ethischen Wertungen. Und er schließt daraus, daß es Gutes und Böses nicht im absoluten Sinne oder von Natur aus gebe, sondern nur in Bezug auf einzelne Menschen und in Bezug auf einzelne Völker. 59 Dieser empirisch-kritische Beweis gegen die Möglichkeit einer Wissenschaft vom Guten wird vervollständigt durch psychologische Betrachtungen über die Schwierigkeiten, die im Begriff des Weisen liegen. Zunächst ermangelt der Skeptizismus nicht, die übrigen Schulen bei dem Zugeständnis festzuhalten, daß es kaum einen wahrhaft Weisen gebe; daß also, wenn weise sein soviel bedeute wie glücklich sein, ihre Anweisungen zum glückseligen Leben jedenfalls bei den meisten Menschen ihr Ziel verfehlen. Aber der Begriff des Weisen selbst ist widerspruchsvoll. Der Weise kann nur dann sittlich heißen, wenn er gegen vernunft widrige Triebe kämpft: denn der Verschnittene ist nicht keusch und der Magenkranke nicht mäßig. Besteht aber die Sittlichkeit im Kampfe gegen die Triebe, so ist der ethische Mensch offenbar nicht glücklich, weil seine Sittlichkeit nur Mühsal für ihn bedeutet. Ganz allgemein aber kann gesagt werden: Gäbe es wirklich so etwas

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