Page images
PDF
EPUB

wie Gutes und Böses, so wäre es unmöglich, glücklich zu leben. Denn alles Unglück bedeutet im letzten Grunde eine Störung unserer Gemütsruhe und alle solche Störungen beruhen darauf, daß wir etwas mit Eifer suchen oder fliehen. Man sucht und flieht aber nur dasjenige, was man für gut oder böse hält. Jede solche Meinung aber macht uns notwendig unglücklich; denn wer ein Gut zu besitzen glaubt, lebt in der Angst, es zu verlieren; und wer vor sogenanntem Unglück gesichert ist, fürchtet, es nicht immer zu sein. Ueberdies liegen die sogenannten Güter und Uebel oft so nahe beieinander, daß man die einen nicht ohne die anderen haben kann: der erwerbslustige Mensch wird leicht habgierig; der ehrliebende leicht zum Streber. Und endlich zeigt die Erfahrung, daß der Besitz des Guten niemals auf die Dauer befriedigt, sondern stets Verlangen nach mehr und Neid auf die, welche dieses Mehr besitzen, bedeutet. 60

So kehrt denn der Skeptizismus des ausgehenden Altertums wieder zu der entschiedenen Haltung des älteren Pyrrhonismus zurück: vollständige praktische Indifferenz, vollständige Enthaltung von Werturteilen, so schwierig sie erscheinen mag, ist der einzig gangbare Weg zur Gemütsruhe, zum Glück. Praktisch ist der Unterschied dieser radikalen Form des Skeptizismus vom probabilistischen Utilitarismus der neueren Akademie weniger bedeutend als theoretisch. Denn auch der Pyrrhonist muß unbeschadet seiner Indifferenz in Bezug auf Güter und Uebel in manchen Fällen doch eine Entscheidung treffen, um zu handeln; nur wird er sich, ohne innere Zustimmung oder gar Ueberzeugung, von seinen Trieben oder von bestehenden Gewohnheiten fast mechanisch leiten lassen. Der Probabilist wird die denkende Entscheidung für ein bestimmtes Handeln keineswegs ausschließen und sich nur gegenwärtig halten, daß ein Beweis für die Richtigkeit desselben niemals zu erbringen sein wird und daß ein anderer mit ebenso gutem Rechte eine andere Entscheidung treffen kann.

III. Kapitel
Metaphysische Ethik

1. Abschnitt

Plato

Die Gegensätzlichkeit im Denken und der praktischen Lebensauffassung des griechischen Volkes, von welcher bereits gesprochen worden ist (S. 6 f.) erscheint in ihrer schärfsten Ausprägung in dem Verhältnis aristotelischen und des platonischen Geistes. Wie sich diese beiden Männer, im Zeitalter der Vollreife der nationalen hellenischen Kultur emporwachsend, für unser Auge zu einer großen Doppelgestalt ergänzen, welche zwei Grundrichtungen alles menschlichen Denkens in sich verkörpert, so gehen diese beiden Richtungen nicht nur im ganzen späteren Leben der antiken Welt nebeneinander her, sondern ziehen sich, mit mancherlei Umbildungen und Verschlingungen, aber im Wesen ungeändert, durch den ganzen Verlauf der neueren Philosophie hindurch und lassen sich auch in der Gegenwart noch immer deutlich erkennen. Mehr noch vielleicht als von der Ethik des Aristoteles kann von der Ethik Platos gesagt werden, daß sie ein großer geistiger Knotenpunkt sei: ein Typus, der hier zuerst in einer einigermaßen begrifflich durchgebildeten und dabei litterarisch ungemein anziehenden Form auftritt und dann durch viele Jahrhunderte hindurch vorbildlich und bestimmend gewirkt hat einflußreich weit über alles Maß bewußter Anlehnung an ihn hinaus und eben dadurch trotz seiner Seltsamkeit seinen wurzelechten Bestand in der menschlichen Natur bewährend.1

1. Sokratischer Ausgangspunkt

[ocr errors]

Plato ist nicht von Hause aus Metaphysiker gewesen - er ist es geworden im Laufe der Entwicklung seiner eigenen

Gedanken. Von Sokrates ist er ausgegangen, von seiner Methode der strengen begrifflichen Arbeit an Problemen des praktischen Lebens, von dem Ernst seiner sittlichen Gesinnung. In dem reichen schriftstellerischen Lebenswerk Platos hebt sich eine Gruppe von dialogischen Schriften kenntlich von allen übrigen ab dadurch, daß in ihnen von den Hauptbestandstücken der philosophischen Weltanschauung, die sich vorzugsweise an Platos Namen knüpft, der Ideenlehre, dem psychologischen Dualismus, dem Schicksal der Seele vor und nach dem irdischen Leben, nicht einmal in Andeutung die Rede ist. Sie werden wohl allgemein als Zeugnisse einer früheren Periode angesehen, in welcher sich Plato noch vorwiegend mit der Darstellung und Ausbildung der von Sokrates selbst vorgetragenen ethischen Anschauungen beschäftigte. Ja es scheint, daß Plato in dieser Zeit gewisse Züge der sokratischen Lehre, namentlich ihren Intellektualismus, noch schärfer herausgearbeitet hat als der Meister selbst sei es, daß er dessen Gedanken wirklich in einseitiger Richtung fortbildete; sei es, daß die dialektische Form mit ihren verwickelten Konstruktionen nur den Zweck hat, den Boden für die richtige Ansicht vorzubereiten und zu ebnen. Daß alle sittliche Tüchtigkeit im letzten Grunde gleichartig sei und identisch mit der Einsicht, was als ein Gut oder als ein Uebel zu gelten habe; daß mit natürlicher Notwendigkeit jeder Mensch nach dem Guten strebe und das Uebel vermeide und daß nur mangelhafte Einsicht ihn dazu bringe, sich dabei zu vergreifen; daß eben darum aber niemand freiwillig fehle: das sind im wesentlichen die Gedanken, welche in den ethischen Schriften aus Platos sokratischer Periode zum Ausdruck gelangen. Lust und Schmerz sind die großen Triebfedern des menschlichen Lebens. Lust kann nur da geflohen werden, wo ihr ein größeres Maß von Unlust entquillt, Unlust bloß dann gewählt und ertragen werden, wenn sie ein größeres Maß von Lust in Aussicht stellt. Wer den Lüsten unterliegt, der ist blind in Bezug auf seinen wahren Vorteil; er sieht vor dem Augenblick und seinen Impulsen nicht das Künftige; er hat nicht gelernt in Fragen der Lust und Unlust richtig zu wägen: Lasterhaftigkeit ist Unwissenheit in der Lebenskunst. Mit noch größerem Nachdruck als Sokrates

Jodl, Geschichte der Ethik. I. 2. Aufl.

5

selbst verkündet Plato in dem dieser Gruppe zugehörigen Dialog Protagoras die Möglichkeit, alle sittliche Tüchtigkeit auf richtige Einsicht, d. h. auf Weisheit, zurückzuführen und sie eben dadurch als unbedingt lehrbar zu erweisen.

Aber freilich, gerade dasjenige, was bei einer Fortbildung dieser sokratischen Gedanken am meisten der Untersuchung und des Beweises bedürftig gewesen wäre, wird einfach als eine Tatsache vorausgesetzt: daß nämlich das Gute im sittlichen Sinne in letzter Linie den höchsten Lustertrag für das handelnde Individuum bedeutet. Plato fand sich hier einer völlig gegensätzlichen Stimmung seiner Zeitgenossen gegenüber, welche an vielen Stellen seiner Dialoge zum Ausdruck kommt und die nach seinem eigenen Zeugnis die allgemeine Gesinnung der griechischen Welt war. 3 Der Mensch, der - gleichviel durch welche Mittel einen so großen Erfolg zu erringen und so viel Macht in seiner Hand zu vereinigen weiß, daß er von niemand für begangenes Unrecht zur Rechenschaft gezogen werden kann, daß er die natürliche Rache der anderen nicht zu fürchten braucht und sich in seinem Glanze sonnen kann ein solcher Mensch ist glücklich. Denn nur die Angst vor den Folgen macht den Menschen, der sich um andere und um die Gesetze nicht kümmert, unselig: darum sucht, wer ihnen nicht zu entrinnen weiß, lieber auf dem dornigen Pfade des Rechttuns wenigstens die bescheidene Lust aus der Ehre und der Achtung. Aber jeder würde ungerecht sein, wenn der Ring des Gyges sein eigen wäre, der den Träger nach Belieben unsichtbar macht.

Einen eigentlichen Gegenbeweis gegen diese Anschauung hat Plato nicht geführt, wohl aber ihr eine andere mit dem Bewußtsein des Alleinstehens und der Paradoxie im schroffen Gegensatz gegenübergestellt: die Ueberzeugung, daß der Ungerechte in jedem Falle unselig sei-unseliger, wenn er ungestraft bleibt; Unrecht tun ein schlimmeres Uebel als Unrecht leiden, weil durch Ungerechtigkeit die Seele zerrüttet wird und mit einer verdorbenen Seele zu leben so wenig erwünscht sei als mit einem verdorbenen Körper. Ein großartiger Gedanke, eine ethische Intuition von weltgeschichtlicher Tragweite, die noch weitere Verfeinerung dadurch emp

fängt, daß jedes Schädigen, auch des Feindes, jegliches Vergelten, auch des Unrechts, streng verpönt wird.*

4

Diese Ueberzeugung hat Plato in seinen späteren Schriften wiederholt mit mächtigem Pathos ausgesprochen; aber ein Beweis ist auch dafür nicht erbracht worden, wenigstens soweit eine rein eudämonologische Betrachtung des empirisch gegebenen Lebens dafür erforderlich wäre. Vielmehr sieht man Plato statt dessen zu einer Reihe von Hilfsannahmen greifen, mit welchen er die Wege der anthropologischen Ethik völlig verläßt und der Begründer einer methaphysischen oder spekulativen Ethik wird. Den Beweis dafür, daß auch die sittliche Tüchtigkeit um der Lust willen zu erstreben sei, weil sie für ein einsichtsvolles Verständnis des Lebens unzweifelhaft den größten Lustertrag bringt - diesen Beweis haben, soweit er auf dem Boden einer überwiegend individualistischen Ethik überhaupt möglich war, die auf Plato folgenden empiristischen Denker, Aristoteles und Epikuros, geliefert."

5

2. Theologisierende Grundlegung.

Vielleicht haben wir das Gefühl, hier vor einer auf dem sokratischen Standpunkte unauflöslichen Schwierigkeit zu stehen, als eines der treibenden Motive bei der späteren Gedankenbildung Platos anzusehen. Es kann aber nicht die Aufgabe der gegenwärtigen Darstellung sein, diese in ihrem allmählichen Werden zu verfolgen, was nur Hand in Hand gehend mit einer bestimmten und begründeten Ansicht über das Zeitverhältnis und die Abfolge der einzelnen platonischen Schriften geschehen könnte. Hier möge der Versuch gemacht werden, den Platonismus“ als ein einheitliches Ganzes darzustellen, als eine bestimmte, charakteristische Welt- und Lebensanschauung, welche in ihrer Totalität ebenso wie in ihren Einzelbestandteilen weithin reichende und dauernde geschichtliche Wirkungen ausgeübt hat. Da diese Anschauung von Plato selbst niemals in geschlossener Form und in einem einzigen Werke dargestellt worden ist, sondern ihre Ausbildung und Darstellung sich über eine lange Periode denkerischer Arbeit und schriftstellerischer Tätigkeit erstreckt; da die schriftstellerischen Werke, welche während dieser Zeit entstanden

7

« PreviousContinue »