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I.

Ludwig Veit von Seckendorff

als Vorläufer des eudämonistischen Wohlfahrtstaates.

Deutschland vermochte die Stellung, welche es als mächtiges Reich im Herzen Europas während des Zeitalters der Entdeckungen und Erfindungen und der großen Kirchenreformation errungen hatte, nicht festzuhalten. Religiöse Spaltungen und politische Zerwürfnisse trieben dieses Reich in den schrecklichsten aller modernen Kriege in den 30jährigen Krieg, aus welchem es mit zerschlagenen Gliedern heraustrat. Deutschland bildete dann nur mehr ein loses Conglomerat von Territorien mit entschieden centrifugalen Tendenzen; es hörte auf, ein Staat zu sein, und fing an, ein geographischer Begriff zu werden. Die Territorialherren wurden immer mächtiger, die Centralgewalt wurde immer schwächer; Katholiken und Protestanten standen einander als feindliche Brüder in unversöhnlichem Hasse gegenüber, Intoleranz und Rohheit kamen auf die Tagesordnung, die Pflege der Kunst hörte auf, die Sitten verwilderten ins Ungeheuerliche, der Wohlstand war bis ins innerste Mark getroffen, kurz, Deutschland war durch diesen grauenhaften Krieg um Jahrhunderte zurückgeworfen worden.

Zugleich gewann es den Anschein, als ob Deutschland nicht bloß von seiner Höhe menschlichen Denkens und Schaffens auf allen Gebieten heruntergestoßen worden wäre, sondern als ob es auch die Fähigkeit eingebüßt hätte, das Verlorne wieder zu gewinnen. Damals war Deutschland einer Insel vergleichbar,

Marchet, Verwaltungslehre.

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auf welcher sich ein ganz eigenthümliches Leben entwickelt hatte, für welches der in anderen Ländern gebräuchliche Maßstab unanwendbar geworden war. Darum traten auch die anderen, England und Frankreich, an Deutschlands Stelle, entwickelten sich politisch und materiell, förderten die Wissenschaft und befruchteten so indirect auch Deutschland.

England pflegte von jeher das Individuum. Im Grunde bezweckten die jahrhundertelangen Kämpfe um eine Verfassung, die glorreiche Revolution von 1688 nichts anderes als die Befreiung der persönlichen Kraft des Einzelnen. Man fühlte sich fräftig genug, für sich selbst zu sorgen, und verlangte darum vor allem Ruhe von oben her und das Recht zur Selbstverwaltung und Selbstbestimmung. Nur dort, wo der Einzelne gewissermaßen machtlos ist, auf dem Gebiete des auswärtigen Handels, verlangte man Förderung. Darum mündete die englische Philosophie der damaligen Zeit in den Utilitarismus aus, bedurfte es des Suchens um den Staatsbegriff, wie dies in Deutschland nothwendig war, nicht und gab sich überhaupt mit dem Nachdenken über Verwaltung nicht allzuviel ab.

Frankreich wiederum hatte Verwaltung von oben her: die glänzende Epoche Ludwig XIV. und des großen Colbert. Es befand sich bei der absoluten Herrschaft und der concentrirten, bureaukratischen Verwaltung ganz leidlich: die glänzende Stellung nach außen ließ manchen Schaden im Innern übersehen. Dabei fing man an, über den Staat und die Verfassung zu philosophiren, und kam schließlich zu den allgemeinen Menschenrechten.

So arbeitete England daran, das Individuum allerwegen in den Vordergrund zu stellen, Frankreich erstritt die Freiheit für die Welt, Deutschland suchte den Staatsbegriff und damit die Verwaltung. Hier galt es zunächst, aus der furchtbaren Versumpfung und Verfallenheit aufzusteigen, sich wirthschaftlich, aber auch politisch zu regeneriren. Die geschichtliche Entwickelung gestattete es dem Deutschen weder, noch legte sie es ihm nahe, das Individuum in den Kreis der Betrachtung zu ziehen. Für

die Riesenaufgaben, welche es hier zu lösen galt, reichte das Individuum nicht aus. Vermöge der staatlichen Zersplitterung, welche Deutschland atomisirte, konnte es auch die weltumspannenden Ideen von Freiheit, Gleichheit und Weltbürgerthum nicht erfassen; für Deutschland handelte es sich um ein langsames Aufraffen und Sichfinden, mit einem Worte, um- Verwaltung.

Entsprechend der deutschen Veranlagung wollte man nun das, was zu geschehen hatte, auch in ein System bringen und so entstand allmählich die Verwaltungslehre, eine deutsche Wissenschaft, deren Geburtszeit wir der Hauptsache nach in die Mitte des 18. Jahrhunderts legen können und deren Entwickelung wir zu verfolgen uns vorgesezt haben.

An der Schwelle jener Zeitperiode, in welcher sich der Werdeproceß Deutschlands nach dem furchtbaren Kriege zu vollziehen begann, finden wir einen hervorragenden Mann, Ludwig Veit v. Seckendorff, welcher von seinen Zeitgenossen1) mit Recht

1) Als charakteristisches Zeichen einerseits der Bewunderung, welche man für Seckendorff hegte, anderseits der Naivetät, deren man sich damals befleißigte, jei es gestattet, hier das Gedicht einzuschalten, mit welchem der Herausgeber von Seckendorff's „Teutsche Reden“, der „churfürstlich sächsische Hof- und Justitien- auch zu denen Grenz- und Cammergerichts Sachen bestallte Rath Salomon Zapff schuldigst auffwartet". Das Gedicht lautet:

Der edle Seckendorff hat sich zur Ruh begeben
Die Sonne, die sich doch niemals zur Ruhe legt;

Fragst Du, was Er für Lust in solcher Ruhe pflegt?

Ließ, was er schreibt und sprich: daß seine Lust und Leben
Sei wie der Sonne Stand, nichts weniger denn Stehen:

Sie doppelt ihre Krafft und wircket allermeist,

Wann eben uns ihr Lauff ein Stillstehn weist.

Da kan man Frucht und Kern an statt der Blühten sehn!
Hier sind nicht große Nichts in stolzen Ton gesezet!

Hier suche keinen Bau der nach Pedanten Kunst
Mit Rüstholz auffgeführt! Hier ist kein blauer Dunst,
Kein Verlang der nur das Ohr' uñ nicht den Geist ergeßet!
Pactolus führet Gold und der ist mehr zu lieben

Mit seinem edlen Kieß in frey- und flachem Gang
Als alles Grottenwerck, das mit viel Kunst und Zwang

Doch nur schlecht Wasser giebt, wie hoch es auch getrieben!

„der Große“ genannt wurde, dessen eigentliche Bedeutung für die deutsche Wissenschaft, besonders aber für die Lehre von der Verwaltung, noch nicht allgemein und umfassend genug gewürdigt scheint.

Roscher sagt in seiner Monographie über Seckendorff 1), daß die Linie von Ossa zu Seckendorff in ihrer Verlängerung nach einem Jahrhunderte auf Justi trifft und hat mit diesem Ausspruche umspannende Geschichtskenntniß und ächt historischen Blick neuerlich erwiesen. Gerade dieser Ausspruch läßt es aber doppelt bedauerlich erscheinen, daß es Roscher weniger Berufenen überlassen hat, diese „Linie“ zu ziehen. Wohl ist aus der Art, in welcher Roscher sowohl Seckendorff als auch Justi schildert, zu entnehmen, daß er mit seinem Ausspruche nicht genau das gemeint hat, was wir in denselben hineinlegen. Uns liegt das entscheidende Moment speciell für Seckendorff's Bedeutung darin, daß er die Verwaltungsära in Deutschland inaugurirte, indem er als der Erste in zusammenhängender Weise über Verwaltung dachte und schrieb, die Nothwendigkeit der Verwaltung feststellte und Grundlagen für dieselbe schuf, wie wir auch Justi als Verwaltungs-Theoretiker zu würdigen versuchen. Bei Roscher wird dieser Gesichtspunkt wenigstens nicht in erster Linie zur Geltung gebracht.

Seckendorff will Verwaltung. Er will „die Polizei, nicht die Reichsverfassung schildern, wie es die anderen Bücher immer gethan haben“ 2) und erklärt, daß er in dieser Richtung „das Eis gebrochen“. Allerdings ist von einem systematischen Behandeln des Gegenstandes bei Seckendorff noch keine Rede. Gerade hundert Jahre mußten verfließen, bis dieses Ziel erreicht wurde, und insoferne hat Kauz Recht zu sagen, daß Justi das erste systematische Werk über Staatswissenschaften in Deutsch

1) „Zwei sächsische Staatswirthe im 16. und 17. Jahrhundert“ (Archiv für die sächsische Geschichte Bd. 1 S. 361 ff., besonders S. 396 ff.).

2) Vorrede zum „Teutschen Fürstenstaat“. Wir citiren nach der „neuesten Auflage" 1754, durch Andreas Simson v. Biechling besorgt.

land geschrieben habe. Anderseits ist gewiß der Vorwurf, welchen Stein diesbezüglich gegenüber Kauß erhebt, berechtigt, daß derselbe mit seinem Ausspruche Seckendorff insoferne nicht ganz gerecht geworden sei, als er bei Schilderung des Entwickelungsganges der Staatswissenschaften Seckendorff's Werke als EinLeitung in die staatswissenschaftliche Periode hätte nennen müssen.

1. Seckendorff's „Naturrecht“.

Veit v. Seckendorff war kein Philosoph, sondern ein Staatsmann und zwar, troß der Kleinlichkeit seiner Mittel, ein Staatsmann im großen Stile.

Der „Fürstenstaat“ erschien 30 Jahre, der „Christenstaat“ · fast 60 Jahre nach H. Grotius' »De jure belli ac pacis <<; ersterer noch vor, lezterer nach Pufendorf's Werken; Leibniz war Seckendorff's Zeitgenosse. Es hieße aber Seckendorff's Auffassung Gewalt anthun, wollte man behaupten, daß in seinen Werfen naturrechtliche Dogmen befolgt werden. Ab und zu beruft er sich auf das natürliche Recht. Die Pflicht der Obrigkeit, gegen Wucher und Ausbeuterei „sowohl gegen heimliche als öffentliche Räuber und Diebe“ aufzutreten, leitet er „aus den natürlichen Rechten" ab 1). Ueberhaupt ist seiner Ansicht nach „mit den studiis philosophicis viel Irrthum bald Anfangs in die christliche Kirche kommen“ 2) und das macht ihm das Philosophiren schon a priori mißliebig und bedenklich.

Troß dieser Abneigung gegen philosophische Begründung seiner Ansichten hatte das Naturrecht und speciell Grotius' Werk schon zu große Bedeutung gewonnen, als daß Seckendorff dasselbe hätte ganz umgehen können. Charakteristisch für unseren

1) Chr.-St. II. XIII, 4. Wir citiren nach der 2. Auflage (1686). 2) Chr.-St. III. VIII, 1. In den Additiones zum Christenstaat (I. V, 6) spricht er so nebenbei „von den lästerlichen Manövern eines getauften Jüden in Niederlanden, Spinoza genant", welcher die Atheisterei mit subtilen und spißfindigen Argumenten so arg als schwerlich Einer vor ihm gethan hat, einführen will".

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